Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Schulkinder in Gefahr
Offenbar nutzen „Querdenker“oder Verfassungsfeinde die Corona-Pandemie zur Unterwanderung der Schulpflicht – Nun gibt es einen solchen Verdacht aus der Gegend um Aalen
HERMANNSFELD - Auf der Suche nach einem wunderlich erscheinenden Kinderprojekt im oberen Remstal unweit von Aalen. Der Weg führt zu einem ehemaligen Bauernhof im Weiler Hermannsfeld. Schmierereien am sanierungsbedürftigen Wohnhaus zeigen das männliche Geschlechtsteil. Vor dem Tor liegen Möbelreste. Beim Blick in den Hof hinüber zu Ställen und Scheuern bietet sich ein Szenario, das aussieht wie Kraut und Rüben.
Gut meinend könnte man alles zusammen auch als Abenteuerspielplatz bezeichnen. Immerhin findet sich dazu ein Schild. „Verein Junge Freilandmenschen“steht darauf. Beim näheren Hinsehen fallen bei einem Verschlag im Hof einige Kinderfahrräder auf, dazu Malereien auf Brettern, die dem Anschein nach von kleinen Händen stammen.
Dass tatsächlich regelmäßig Kinder auf dem Hof sind, bestätigen Nachbarn. Offenbar kommt hier der Nachwuchs von irgendwelchen Leuten zusammen. Aber welcher Art von Leuten? Bei Recherchen der „Südwest Presse“ist der Begriff „Querdenker“gefallen beziehungsweise der Verdacht nahegelegt worden, dass es sich auf diesem Hof um ein illegales Schulexperiment von solchen Gegnern der AntiCorona-Maßnahmen handeln könnte.
Erst im Herbst war ein solches Tun im oberbayerischen Schechen bei Rosenheim aufgeflogen. Rund 50 Kinder seien zusammengekommen, hieß es in örtlichen Medien. Wie zuständige Schulbehörden meldeten, hätten deren Eltern Corona-Tests an Schulen abgelehnt.
Fürs Erste stand die Verletzung der Schulpflicht im Raum. Doch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz hat Weiteres zu den Rosenheimer Verwicklungen ermittelt: „Es konnten zwischenzeitlich bei der für das Schulprojekt maßgeblichen sogenannten Stiftung hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung nachgewiesen werden, welche dem Phänomenbereich ,Reichsbürger’ und ,Selbstverwalter’ zuzuordnen sind.“Die Spur führt dabei zu einer vermeintlichen Stiftung in Russland.
Nahegelegt wird durch die Ermittlungen, dass sie etwas mit der Anastasia-Bewegung zu tun haben könnte. Sie geht auf eine Romanserie des russischen Autors Wladimir Megre zurück und gilt als neue Ideologie im rechtsesoterischen Spektrum. Rettung für weiße Völker soll durch eine Rückkehr zu ländlichen Wurzeln und bäuerlichem Leben erreicht werden. Die Nazis kannten so etwas unter der Parole „Blut und Boden“.
„Ich habe den Eindruck, dass es hier Akteure gibt, die Menschen dem demokratischen System entfremden wollen, und da muss man als Eltern dafür Sorge tragen, dass man sich da nicht instrumentalisieren lässt“, sagt Matthias Pöhlmann. Er ist der Beauftragte für Sektenund Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Die Corona-Pandemie sei dabei oft nur ein neues Vehikel für Verschwörungsgläubige, Esoteriker oder Verfassungsfeinde.
In der Tat scheinen solch obskure Unterfangen wie bei Rosenheim
Konjunktur zu haben. So meint das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz: Man habe „in der Vergangenheit im Arbeitsbereich ,Reichsbürger’ und ,Selbstverwalter’ Versuche festgestellt, eigene Schulformen und Unterrichtsformate zu etablieren. Akteure aus der Szene versuchen auf diesem Weg, einen ideologischen Einfluss auf Kinder und Jugendliche auszuüben“. Insbesondere die Ideologie der „Selbstverwalter“enthalte den Wunsch nach einer vom Staat unabhängigen, unbeeinflussten Lebensführung. Dies schließe Schulunterricht ein.
Zum aktuellen Fall in Hermannsfeld kann der hiesige Verfassungsschutz keine Einschätzung abgeben. Laut des Staatlichen Schulamts in Göppingen wird nun erst einmal überprüft, womit man es da überhaupt zu tun hat. Amtsleiter Jörg Hofrichter hat örtliche Medien informiert, dass es bislang keine nachweisbaren Anhaltspunkte für die Existenz einer „Schule“oder von „Unterricht“gebe. Auch eine bloße Freizeitbetreuung stünde im Raum. Es seien jedoch noch Fragen offen.
Der Besuch vor Ort auf dem besagten Hof bringt erst einmal auch keine entscheidenden Erkenntnisse. Weder Kinder noch Eltern sind sichtbar. Nach dem Klingeln am Wohnhaus schaut eine Frau aus dem Fenster. Sie meint höflich wie eindringlich, dass die bisherige Berichterstattung falsch gewesen sei. Schließlich kommt von ihrer Seite der Vorschlag, die nächsten Tage miteinander zu telefonieren, um einen Gesprächstermin auszumachen. Der mehrmalige Versuch, über die angegebene Handynummer jemanden zu erreichen, bleibt vergeblich.
Die „Südwest Presse“hat zumindest vermeintlich verantwortliche Personen ausgemacht. Darunter ist eine Lehrerin, die offenbar auch seit gut 20 Jahren den Hof besitzt. In der Gemeinde Essingen, zu welcher der Weiler Hermannsfeld gehört, gilt sie als anerkannte Pädagogin. Von ihr aus führt nach den vorliegenden Informationen eine der Fährten Richtung „Querdenker“: Sie soll als Rednerin bei einer „Querdenker“-Demonstration in Aalen angekündigt gewesen sein.
Eine weitere Spur in eine solche Richtung gibt es laut Medienberichten in Chats im Messengerdienst Telegram. Demnach wollte das Mitglied einer Elterngruppe, die Corona-Maßnahmen kritisch gegenübersteht, Kontakt zu einer „Freilernerschule“in der Aalener Gegend. In der Szene wird darunter vordergründig eine „Schule“abseits der offiziellen Schulpflicht verstanden. Hinzu kommen alternative Pädagogikansätze. Jedenfalls wurde der Interessent auf Hermannsfeld verwiesen.
Konkreter wird die Geschichte im Zusammenhang mit einer Frau namens Eva Bader. Sie soll die stellvertretende Vorsitzende jener Gruppierung in dem besagten Weiler sein. Von ihr stammt eine Pressemitteilung an die „Südwest Presse“. Demnach hat sich der Verein Junge Freilandmenschen Mitte des vergangenen Jahres gegründet. Er wolle Kindern und Jugendlichen einen „Raum der Entfaltung und
Entwicklung zur Verfügung stellen“. Weiter heißt es: „In freien Angeboten dürfen die jungen Menschen sich frei entwickeln und wachsen, im Einklang mit der Natur den Ablauf der vier Jahreszeiten erleben.“Junge Menschen sollten auf „ein freies und selbstbestimmtes Leben“vorbereitet werden.
Was vorerst nicht schlecht klingt und wohl generell den Wünschen vieler Eltern entgegenkommen dürfte. Dennoch bleibt erneut im Diffusen, worum es in Hermannsfeld tatsächlich geht. Einen weiteren Hinweis bietet ein Schild am Hoftor. Dort steht, dass der Verein Junge Freilandmenschen Kooperationspartner von Gaudium in Vita sei. Dabei handelt es sich um einen im oberösterreichischen Freistadt ansässigen Verein.
Er beschreibt sich als „Forschungsinstitut für Bildung, Kunst und Kultur mit generationenübergreifender Nachhaltigkeit“. Es geht dabei um „Homeschooling“, also
Lernen daheim. Oder auch um das „Freilernen“. Im ursprünglichen Sinn sollen sich Kinder dabei selber ausbilden, indem sie sich um das kümmern, was ihnen gerade interessant erscheint – und dies ohne Gängelung von irgendwelcher Seite.
Solche Ideen existieren schon länger. Nur steht ihnen in Deutschland die strikte Schulpflicht entgegen. Gaudium in Vita möchte aber offenbar Schwung in die Debatte bringen. Es werden tatsächlich Kooperationspartner für entsprechende Projekte gesammelt. Wie Gaudium-in-Vita-Vorsitzende Nicole Wolf auf eine Anfrage hin schreibt, sei ihrem Verein das Unterfangen in Hermannsfeld aber unbekannt.
Offenbar möchte er nicht im Dunkeln vor sich hinwerkeln. Vergangenen Dezember hat der Verein die Kultusministerien der deutschen Bundesländer angeschrieben. Es ging um ein Angebot zur Zusammenarbeit beim Erforschen alternativer Pädagogikkonzepte. Vereinschefin Nicole Wolf schreibt, dass unter anderem das badenwürttembergische Kultusministerium geantwortet habe – mit einer Absage.
Wenig überraschend. Was wiederum mit der Schulpflicht zusammenhängt. Wie Wolf mitteilt, weist das Kultusministerium auf Artikel 7 des Grundgesetzes hin. Dort steht geschrieben, das gesamte Schulwesen unterstehe der Aufsicht des Staates. Dass sich daraus jedoch automatisch eine strikte Schulpflicht ergibt, zweifelt Gaudium in Vita an. Laut Wolf überlegt ihr Verein, dies juristisch klären zu lassen.
Gegenwärtig ist es für Eltern extrem schwer, ihre Kinder von der Schulpflicht befreien zu lassen. Was sich hinter dem Aufrichten der Hürden verbirgt, fasst Matthias Schneider in gut verständliche Worte. Er ist Geschäftsführer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Baden-Württemberg. Schneider sagt: „Die Schulpflicht in Deutschland war eine Errungenschaft und müsste eigentlich eher ,Recht auf Schulbesuch’ heißen, denn die Einführung einer Schulpflicht war ein wichtiger Schritt zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Bei der Einführung wurde erreicht, dass
Kinder und Jugendliche zum Teil auch gegen den Willen ihrer Eltern oder Familien ein Recht auf Bildung erhielten.“
Was es definitiv nicht geben sollte, zeigt ein Beispiel aus Klosterzimmern, gute 40 Kilometer östlich von Hermannsfeld in Bayern gelegen. 2001 übersiedelten Angehörige der Sekte Zwölf Stämme in das dortige aufgelassene Kloster. Staatliche Schulen lehnen sie ab. Der Nachwuchs wurde daheim behalten. Die Kinder sollten nur lernen, was der Sekte genehm ist, etwa dass Gott die Erde vor rund 6000 Jahren erschaffen habe – wie es sich eben aus der Bibel erschließt. Andere Ansichten seien des Teufels.
Nach langem Streit mit dem Freistaat bekam die Gruppe von entnervten Beamten sogar probehalber eine eigene Schule genehmigt. Nachdem 2013 publik wurde, dass die Sektierer Prügelstrafe als Teil der Erziehung verstehen, wurde dem Spuk ein Ende gemacht.
Aufgrund solcher Erfahrungen reagieren Behörden argwöhnisch, wenn es um vermeintliches Lernen außerhalb staatlicher oder staatlich anerkannter Privatschulen geht. Um Kinder aus deren Unterricht zu entfernen, müssen Eltern Gutachten vorweisen. Womöglich lassen Lebensumstände die Schulpflicht nicht zu. Dies kennt man bei Kindern in Zirkussen. Oder eventuell geben schwere Krankheiten einen Anlass zur Schulbefreiung.
Offenbar hat aber Corona dem Lernen abseits der Schulpflicht eine neue Aufmerksamkeit verschafft. Fakt sei, dass seit deren Beginn ein starkes Interesse von Familien und jungen Menschen zu beobachten sei, die sich ein Leben ohne Schule wünschen, erklärt Walter Neumann, der baden-württembergische Vertreter des Bundesverbandes Natürlich Lernen. Vor dem Ruhestand war er im Landratsamt Ludwigsburg mit schulpsychologischen Aufgaben befasst. Nun wirbt Neumann für Formen des „Freilernens“.
Dass es eine steigende Nachfrage gebe, sagt er, beruhe auf der Zeit, in der im Südwesten der Präsenzunterricht ausgesetzt gewesen sei und Familien Erfahrungen mit dem Lernen zu Hause sammeln konnten. Neumann spielt damit auf rund eineinhalb Jahre nach dem März 2020 an. „Eltern und junge Menschen haben währenddessen erkannt, dass ein Lernen ohne Schule ebenso möglich ist“, glaubt Neumann. Er schätzt die Zahl der „Freilerner“in Deutschland auf ungefähr 2000. Aufgrund der Schulpflicht seien viele betroffene Familien mit gerichtlichen Verfahren konfrontiert. Im Gebiet des Regierungspräsidiums Stuttgart, zu welchem auch Hermannsfeld gehört, sind nach Behördenangaben derzeit vier Zwangsgeldverfahren anhängig. „Alle im Zusammenhang mit Corona“, wie es heißt. Des Weiteren liege eine einstellige Zahl von Hinweisen auf Orte vor, an denen schulpflichtige Kinder möglicherweise während der Schulzeit betreut werden. Für ganz Baden-Württemberg nennt das Kultusministerium 80 Fälle, in denen es wegen der Verletzung der Schulpflicht um Zwangsgeld geht.
Das Projekt in Hermannsfeld wirkt indes wie stillgelegt. Anlieger geben sich ratlos. Nur das Schulamt meldet, weiteren Hinweisen auf illegales Tun werde nachgegangen.