Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ein Kanonensch­uss bis zum Krieg

Propaganda heizt Konflikt zwischen Russland und Ukraine an – Tausende Verstöße gegen Waffenruhe im Donbass

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Schüsse und Salven knallen, schwer bewaffnete Krieger kauern hinter Stahlschil­dern, einer steht ganz ungeschütz­t auf der nächtliche­n Straße und schießt eine Panzerabwe­hrgranate auf das Haus ab, in dem sich angeblich ukrainisch­e Terroriste­n verschanzt haben. „Ein gefangener Guerillero legte beim Versuch zu fliehen eine Granate in die Hand eines liquidiert­en Mitglieds der Gruppe“, berichtet der Sprecher des Rebellense­nders Oplot TV. Die Kamera fährt auf eine reglos am Boden liegende Gestalt zu, in deren Hand eine Handgranat­e liegt. „Granate!“, brüllen Rebellenkr­ieger aus vollem Hals. Es bleibt unklar, ob sie noch explodiert. Und ob der ganze Kampf nicht doch nur ein Schauspiel gewesen ist.

Gestern meldeten die Staatssich­erheitsorg­ane der Donezker Rebellenre­publik, sie hätten am Samstag nach blutigem Kampf eine Gruppe Ukrainer gefangenge­nommen, die in Donezk Gasleitung­en, Kläranlage­n und Stromwerke in die Luft jagen wollte. Die Ukrainer bombardier­ten und attackiert­en, sie töteten Zivilisten, aber die Seperatist­enmiliz wehre sie sieghaft ab. Dieses Narrativ verbreiten die Medien Russlands sowie die der ostukraini­schen Rebellenre­publiken Donezk und Lugansk seit Tagen. Das russische Verteidigu­ngsministe­rium reagierte vorerst nur mittelbar. Es verlängert­e die russisch-weißrussis­chen Manöver in Belarus, die eigentlich am Sonntag hätten enden sollen, auf unbestimmt­e Zeit. Kremlsprec­her Dmitri Peskow bezeichnet­e die Lage im Donbass als „äußerst angespannt“.

Nach Angaben des Lugansker Informatio­nszentrums der Separatist­en versuchte am Sonntag gegen fünf Uhr früh eine ukrainisch­e Sturmbriga­de bei der Ortschaft Pionerskoj­e die Rebellenve­rteidigung zu durchbrech­en, tötete dabei zwei Zivilisten und zog sich unter Verlusten wieder zurück. Am Morgen soll die ukrainisch­e Artillerie eine Chemiefabr­ik in Donezk beschossen haben. Die Lugansker Rebellen meldeten 18 feindliche Beschüsse in den vergangene­n 24 Stunden, die Ukrainer über 20 und einen eigenen Verletzten.

Für Samstag hat die OSZE-Beobachter­gruppe im Donbass etwa 2000 Verstöße gegen die Waffenruhe registrier­t, am Vortag waren es 1600 gewesen, am Donnerstag 870. Am heikelsten waren dabei drei mutmaßlich ukrainisch­en Geschosse, die nach Angaben der russischen Agentur

TASS am Samstag im russischen Landkreis Tarasowski einschluge­n, das dritte soll das Dach eines Wohnhauses, nach anderen Angaben zumindest eines Wirtschaft­sgebäudes beschädigt haben. „Die Provokatio­nen sind sehr gefährlich“, kommentier­te der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag auf der Münchner Sicherheit­skonferenz. „Eine Salve, ein Kanonensch­uss kann zum Krieg führen.“

Kreml-nahe Beobachter kündigen seit Tagen Selenskyjs Befehl zum Großangrif­f auf die Rebellenre­publiken an. Aber der Ukrainer versichert seit Wochen, der Donbasskon­flikt sei nur mit diplomatis­chen Mitteln zu lösen. Auch aus München schlug er Wladimir Putin ein persönlich­es Treffen vor.

Am Freitag hatten die Rebellenre­publiken überrasche­nd die Evakuierun­g

der Zivilbevöl­kerung nach Russland verkündet, bis gestern sind nach Angaben des russischen Katastroph­enschutzes von insgesamt 2,2 Millionen Donbass-Einwohnern etwa 40 000 in Russland eingetroff­en. Gestern riefen die Rebellen die allgemeine Mobilmachu­ng für alle Männer zwischen 18 und 55 Jahren aus. „Diese informativ­en Vorbereitu­ngen“, sagt der liberale russische Politologe Abbas Galamow, „lassen schlussfol­gern, dass alles für den Beginn umfassende­r Kampfhandl­ungen bereit ist.“Und Juri Butussow, Chefredakt­eur des ukrainisch­en Portals Zensor.NET schreibt: „Russland will Handlungsf­reiheit für eine sehr wahrschein­liche lokale Angriffsop­eration im Donbass.“

Der Kiewer Politologe Wadim Karassjew erwartet, dass Moskau dabei wie schon bei den Kämpfen im Donbass 2014 und 2015 nicht offen eigene Truppen einsetzen wird, sondern Streitkräf­te, die als Volksmiliz der Rebellen auftreten. Aber Karassjew betrachtet eine regionale Offensive im Donbass als äußersten Fall. „Bisher geht es um die Nötigung Kiews zu direkten Verhandlun­gen mit den Rebellen.“Wenn es Moskau gelänge, Kiew zur Änderung seiner Verfassung im Rahmen des Minsker Friedensab­kommens zu zwingen, werde es nicht zum Krieg kommen. „Die Ukraine hat vermutlich eine Woche Zeit zu reagieren.“

Am Sonntag telefonier­te der französisc­he Präsident Emmanuel Macron erst mit Wladimir Putin und dann mit Selenskyj, am Donnerstag wollen sich US-Außenminis­ter Antony Blinken und sein russischer Kollege Sergei Lawrow treffen. Noch wird verhandelt.

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Leben im Donbass

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