Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Ein Kanonenschuss bis zum Krieg
Propaganda heizt Konflikt zwischen Russland und Ukraine an – Tausende Verstöße gegen Waffenruhe im Donbass
MOSKAU - Schüsse und Salven knallen, schwer bewaffnete Krieger kauern hinter Stahlschildern, einer steht ganz ungeschützt auf der nächtlichen Straße und schießt eine Panzerabwehrgranate auf das Haus ab, in dem sich angeblich ukrainische Terroristen verschanzt haben. „Ein gefangener Guerillero legte beim Versuch zu fliehen eine Granate in die Hand eines liquidierten Mitglieds der Gruppe“, berichtet der Sprecher des Rebellensenders Oplot TV. Die Kamera fährt auf eine reglos am Boden liegende Gestalt zu, in deren Hand eine Handgranate liegt. „Granate!“, brüllen Rebellenkrieger aus vollem Hals. Es bleibt unklar, ob sie noch explodiert. Und ob der ganze Kampf nicht doch nur ein Schauspiel gewesen ist.
Gestern meldeten die Staatssicherheitsorgane der Donezker Rebellenrepublik, sie hätten am Samstag nach blutigem Kampf eine Gruppe Ukrainer gefangengenommen, die in Donezk Gasleitungen, Kläranlagen und Stromwerke in die Luft jagen wollte. Die Ukrainer bombardierten und attackierten, sie töteten Zivilisten, aber die Seperatistenmiliz wehre sie sieghaft ab. Dieses Narrativ verbreiten die Medien Russlands sowie die der ostukrainischen Rebellenrepubliken Donezk und Lugansk seit Tagen. Das russische Verteidigungsministerium reagierte vorerst nur mittelbar. Es verlängerte die russisch-weißrussischen Manöver in Belarus, die eigentlich am Sonntag hätten enden sollen, auf unbestimmte Zeit. Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete die Lage im Donbass als „äußerst angespannt“.
Nach Angaben des Lugansker Informationszentrums der Separatisten versuchte am Sonntag gegen fünf Uhr früh eine ukrainische Sturmbrigade bei der Ortschaft Pionerskoje die Rebellenverteidigung zu durchbrechen, tötete dabei zwei Zivilisten und zog sich unter Verlusten wieder zurück. Am Morgen soll die ukrainische Artillerie eine Chemiefabrik in Donezk beschossen haben. Die Lugansker Rebellen meldeten 18 feindliche Beschüsse in den vergangenen 24 Stunden, die Ukrainer über 20 und einen eigenen Verletzten.
Für Samstag hat die OSZE-Beobachtergruppe im Donbass etwa 2000 Verstöße gegen die Waffenruhe registriert, am Vortag waren es 1600 gewesen, am Donnerstag 870. Am heikelsten waren dabei drei mutmaßlich ukrainischen Geschosse, die nach Angaben der russischen Agentur
TASS am Samstag im russischen Landkreis Tarasowski einschlugen, das dritte soll das Dach eines Wohnhauses, nach anderen Angaben zumindest eines Wirtschaftsgebäudes beschädigt haben. „Die Provokationen sind sehr gefährlich“, kommentierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag auf der Münchner Sicherheitskonferenz. „Eine Salve, ein Kanonenschuss kann zum Krieg führen.“
Kreml-nahe Beobachter kündigen seit Tagen Selenskyjs Befehl zum Großangriff auf die Rebellenrepubliken an. Aber der Ukrainer versichert seit Wochen, der Donbasskonflikt sei nur mit diplomatischen Mitteln zu lösen. Auch aus München schlug er Wladimir Putin ein persönliches Treffen vor.
Am Freitag hatten die Rebellenrepubliken überraschend die Evakuierung
der Zivilbevölkerung nach Russland verkündet, bis gestern sind nach Angaben des russischen Katastrophenschutzes von insgesamt 2,2 Millionen Donbass-Einwohnern etwa 40 000 in Russland eingetroffen. Gestern riefen die Rebellen die allgemeine Mobilmachung für alle Männer zwischen 18 und 55 Jahren aus. „Diese informativen Vorbereitungen“, sagt der liberale russische Politologe Abbas Galamow, „lassen schlussfolgern, dass alles für den Beginn umfassender Kampfhandlungen bereit ist.“Und Juri Butussow, Chefredakteur des ukrainischen Portals Zensor.NET schreibt: „Russland will Handlungsfreiheit für eine sehr wahrscheinliche lokale Angriffsoperation im Donbass.“
Der Kiewer Politologe Wadim Karassjew erwartet, dass Moskau dabei wie schon bei den Kämpfen im Donbass 2014 und 2015 nicht offen eigene Truppen einsetzen wird, sondern Streitkräfte, die als Volksmiliz der Rebellen auftreten. Aber Karassjew betrachtet eine regionale Offensive im Donbass als äußersten Fall. „Bisher geht es um die Nötigung Kiews zu direkten Verhandlungen mit den Rebellen.“Wenn es Moskau gelänge, Kiew zur Änderung seiner Verfassung im Rahmen des Minsker Friedensabkommens zu zwingen, werde es nicht zum Krieg kommen. „Die Ukraine hat vermutlich eine Woche Zeit zu reagieren.“
Am Sonntag telefonierte der französische Präsident Emmanuel Macron erst mit Wladimir Putin und dann mit Selenskyj, am Donnerstag wollen sich US-Außenminister Antony Blinken und sein russischer Kollege Sergei Lawrow treffen. Noch wird verhandelt.