Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Der Boden unter unseren Füßen
Julia Schochs eindringlicher Roman „Das Vorkommnis“ist der Auftakt zu einer Trilogie
Unsere Eltern sind die Götter unserer Kindheit. Wird das Vertrauen in sie erschüttert, ist unser Vertrauen in die Welt erschüttert. Diese Erfahrung muss auch die Ich-Erzählerin im neuen Roman von Julia Schoch machen. Sie ist Autorin und gerade auf Lesereise, als in einer norddeutschen Stadt eine wildfremde Frau sie anspricht und ihr mitteilt: „Wir haben übrigens denselben Vater.“Obwohl sie noch nie etwas von der Fremden gehört hat, fällt sie ihr intuitiv in die Arme.
„Das Vorkommnis“, so auch der Titel des Romanes, der Auftakt zu einer mit „Biographie einer Frau“überschriebenen Trilogie ist, lässt die Erzählerin nicht los. Bruchstücke aus ihrer Kindheit kommen hoch. Sie erinnert sich an einen Brief, den die Mutter in der Jacke ihres Mannes gefunden hat. Ein amtliches Schreiben über gezahlte Alimente. Bevor er seine Frau kennenlernte, als junger Unteroffizier, besuchte er beim Ausgang aus der Kaserne eine ältere Frau in der Bezirkshauptstadt P., ließ sich von ihr bekochen und ging mit ihr ins Bett. Ein „Bratkartoffelverhältnis“nannte man so etwas damals. Als die Frau schwanger wurde, willigte er ein, Vater des Kindes zu sein und zahlte Alimente, bis die überforderte Frau das Baby zur Adoption freigab. Unter vorgehaltener Hand wurde in der Familie der Ich-Erzählerin darüber gesprochen. Wie konnte sie das nur vergessen? „Auf welchem Wege geht einem das Wesentliche verloren, und warum?“
Mit tastenden Worten spürt die 1974 in Bad Saarow geborene und selbst als Tochter eines NVA-Offiziers in der Garnisonstadt Eggesin am Stettiner Haff aufgewachsene Julia Schoch der Verunsicherung ihrer Protagonistin nach. Die äußere Handlung ihres Buches ist schnell erzählt. Als Gastdozentin in dem kleinen Nest Bowling Green in Ohio, wo sie ein Seminar über deutschdeutsche Gegenwartsliteratur halten soll, ist sie weit weg. „Doch man ist nie weit genug entfernt, als dass die Dinge einen nicht einholen könnten.“Sie macht sich Gedanken über ihre Halbschwester. Wie es ihr erging, wie sie sich fühlte. „Ich hatte ihr den Vater weggenommen. War es nicht so?“Alles, was der Erzählerin vertraut war, wird auf einmal unsicher. Ihren Eltern traut sie nicht mehr. „Familie ist Fiktion. Daran ist nichts Schlimmes.“Selbst ihrem Mann, der sie in Ohio besucht, begegnet sie mit Misstrauen und durchsucht seine Manteltaschen, um darin etwas zu finden.
Julia Schoch hat einen psychologischen Roman über eine Frau geschrieben, der der Boden unter den Füßen entzogen wird. Sie spielt mit autobiografischen Versatzstücken und doch ist die Ich-Erzählerin im Buch nicht sie selbst, wie sie fast zu sehr betont. Verweise auf ihren 2009 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Roman „Mit der Geschwindigkeit eines Sommers“, dessen retardierende Sätze sich ebenso an das Gestern klammerten wie die entwurzelten Protagonisten des Buches,
sind ebenso klar auszumachen wie andere Parallelen in den Lebensläufen von ihr und ihrer Romanfigur. Beim Lesen fühlt man sich mitunter an Christa Wolf erinnert, die einen ähnlich eindringlichen Ton hatte. Das Hauptereignis dieses Buches ist nicht die Handlung, sondern die Sprache. „Das hier ist nicht die Geschichte meiner Familie“, heißt es einmal. „Die Geschichte meiner Familie gibt es nicht. Das ist nur die Geschichte einer Verwirrung.“
Die fremde Schwester, die auf einmal auftaucht und alles infrage stellt, kann auf einer Metaebene auch als Parabel auf die Wiedervereinigung gedeutet werden. Das aber ist nur eine Lesart dieses Romanes, der nicht nur Familienverhältnisse und Ehe hinterfragt, sondern auch die Erinnerung.
Die DDR, die noch in Schochs Buch „Schöne Seelen und Komplizen“(2018), diesem Mosaik des Umbruchs, das Leben der Handelnden dominierte, wird im neuen Roman kaum mehr erwähnt, ist subkutan aber zu spüren. Man darf gespannt sein, wie die Trilogie weitergeht. Wie Julia Schoch ihre Geschichte und die Geschichte einer Generation fortschreibt.
Julia Schoch: Das Vorkommnis – Biographie einer Frau, dtv Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.