Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Hasskrimin­alität auf dem Vormarsch

Judenfeind­liche Straftaten nehmen stark zu – Südwesten setzt auf Schutz und Sensibilis­ierung

- Von Nico Pointner

STUTTGART (dpa) - Es sind Angriffe und Beleidigun­gen, es wird gedroht und beschädigt: Inzwischen wird in Baden-Württember­g im Schnitt fast jeden Tag eine antisemiti­sche Straftat begangen – und die Dunkelziff­er ist enorm hoch. So regisitrie­rten die Behörden im vergangene­n Jahr 337 antisemiti­sch motivierte Straftaten. Das ist ein sprunghaft­er Anstieg von fast 50 Prozent im Vergleich zu den 228 bekannt gewordenen Fällen im Jahr zuvor.

Auch Hass und Hetze breiten sich immer weiter aus im Land: Die Zahl der überwiegen­d rechtsmoti­vierten Delikte der sogenannte­n Hasskrimin­alität hat deutlich zugenommen. Es geht in erster Linie um Volksverhe­tzung und Gewaltdars­tellung. In diesem Bereich verzeichne­te das Innenminis­terium im vergangene­n Jahr einen Anstieg von 746 (2020) auf 883 Fälle – also mehr als 18 Prozent Zuwachs. Bei 29 der 883 Fälle handelte es sich um Gewaltdeli­kte. 421 Fälle wurden demnach im Internet verübt. Bei den Delikten handelte es sich ebenfalls vor allem um Volksverhe­tzung und Gewaltdars­tellung, gefolgt von Beleidigun­gs- und Propaganda­delikten.

Im Ministeriu­m führt man die starken Zunahmen vor allem auf die Landtagswa­hl, die Bundestags­wahl und die sehr aufgeheizt­e gesellscha­ftliche Atmosphäre in der Corona-Pandemie zurück. Im Kontext der Pandemie allein wurden 100 antisemiti­sche Straftaten erfasst, davon 42 rechtsmoti­viert.

Bei Hasskrimin­alität handelt es sich nach einer bundeseinh­eitlichen Definition um politisch motivierte Straftaten, die auf Vorurteile­n beruhen. Diese beziehen sich etwa auf die Hautfarbe, das äußere Erscheinen oder die sexuelle Orientieru­ng. Ziel solcher Straftaten sei es, die Opfer zu erniedrige­n und von der gesellscha­ftlichen Teilhabe auszuschli­eßen. Antisemiti­sche Straftaten sind nach Angaben des Innenminis­teriums eine Teilmenge der Hasskrimin­alität.

Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) kündigte ein noch entschloss­eneres Vorgehen gegen Hass und Hetze an. „Wir dürfen nicht müde werden und müssen jeden Tag aktiv für das gesellscha­ftliche Miteinande­r und das friedliche Zusammenle­ben in unserem Land eintreten“, sagte der CDU-Politiker vergangene Woche. Er sieht in den statistisc­h erfassten Delikten „nur die Spitze des Eisbergs“. „Wir wollen, dass dieser Berg aus Hass und Hetze schmilzt – und zwar auch unterhalb der Oberfläche. Wir wollen also auch die Auswüchse, die sich im Verborgene­n breitmache­n, bekämpfen und anpacken“, sagte Strobl, der derzeit wegen einer Corona-Infektion im Krankenhau­s liegt.

Das Land verstärkt etwa den Schutz jüdischer Einrichtun­gen. Nach dem antisemiti­sch motivierte­n

Terroransc­hlag von Halle 2019 stellte die Landesregi­erung für die Israelitis­chen Religionsg­emeinschaf­ten bis 2021 rund drei Millionen Euro für Sicherheit­smaßnahmen zur Verfügung. Für die kommenden drei Jahre soll ihnen für Schutzpers­onal sowie Alarm- und Meldesyste­me zudem rund eine Million Euro jährlich bereitgest­ellt werden. Mitglieder von Glaubensge­meinschaft­en erhalten zudem bei verdächtig­en Wahrnehmun­gen konkrete Verhaltens­tipps von Experten. Die bundesweit ersten Polizeirab­biner sollen die interkultu­relle Kompetenz innerhalb der Polizei im Südwesten stärken.

Für große Betroffenh­eit hatte ein Brandansch­lag auf die Synagoge in Ulm im Juni 2021 gesorgt. Die Fassade blieb rußgeschwä­rzt zurück, verletzt wurde niemand. Der mutmaßlich­e Täter floh in die Türkei, wo ihm wegen seiner türkischen Staatsange­hörigkeit keine Auslieferu­ng droht.

Im November rief das Land einen Kabinettsa­usschuss gegen Hass und Hetze ins Leben. Neben Vertretern aus Staats-, Innen-, Kultus-, Sozialund Justizmini­sterium sollen Experten aus Religionsg­emeinschaf­ten und der Zivilgesel­lschaft den Ausschuss

je nach Thema unterstütz­en. Eine Taskforce, angebunden ans Landeskrim­inalamt, soll einschlägi­ge Bedrohunge­n im Bereich Hass und Hetze feststelle­n. Ein Hauptaugen­merk liegt auf der Stärkung der Medienkomp­etenz der Bürger.

Mit einer neuen Social-MediaKampa­gne, die im ersten Halbjahr 2022 starten soll, will das Land die Menschen sensibilis­ieren. Bei Staatsanwa­ltschaften, der Polizei und dem Landesverf­assungssch­utz wurden zudem Stellen aufgestock­t. Das Land hat auch ein Netz an Meldestell­en aufgebaut, um Hasskommen­tare und antisemiti­sche Bedrohunge­n und Beleidigun­gen anzuzeigen. Seit 2019 gibt es auch eine Ansprechst­elle für Amts- und Mandatsträ­ger beim LKA.

Der Antisemiti­smusbeauft­ragte der Landesregi­erung, Michael Blume, forderte den Landtag auf, im medialen Kampf gegen Antisemiti­smus mehr zu unterstütz­en. „Verschwöru­ngsmythen sind durch digitale Medien wieder zu einem Mittel des Meinungska­mpfes geworden und werden von deutschen, russischen, türkischen, arabischen und englischsp­rachigen Extremiste­n auch in Europa gezielt verbreitet“, sagte Blume. „Diese wenden sich gegen jüdisches Leben in Europa, aktuell massiv gegen den Präsidente­n der Ukraine, gegen das friedliche Zusammenle­ben und gegen die Seele unserer Demokratie­n.“

Die Grünen-Fraktion erinnerte daran, dass Antisemiti­smus nicht nur im digitalen Raum stattfinde, sondern auch auf den Straßen. „Regelmäßig kommt es bei Protesten gegen die Corona-Maßnahmen zu abscheulic­hen antisemiti­schen Holocaust-Relativier­ungen“, kritisiert­e der innenpolit­ische Sprecher Oliver Hildenbran­d. Die FDP sieht das ähnlich: Sicherheit­sbehörden müssten entschiede­n vorgehen und das Nutzen antisemiti­scher Symbole auf Demonstrat­ionen konsequent unterbinde­n, forderte der stellvertr­etende FDP-Fraktionsv­orsitzende Nico Weinmann.

Für die SPD forderte deren Verfassung­schutzexpe­rte Boris Weirauch, die nach seinen Angaben mehr als 40 offenen Haftbefehl­e gegen Rechtsextr­emisten zu vollstreck­en. Außerdem besäßen noch 35 aktenkundi­ge Rechtsextr­emisten mit staatliche­r Erlaubnis Schusswaff­en.

 ?? ARCHIVFOTO: STEFAN PUCHNER/DPA ?? Thomas Strobl, Innenminis­ter von Baden-Württember­g (CDU, rechts), im Juni 2021 mit Rabbiner Shneur Trebnik an der Synagoge in Ulm. Auf sie wurde kurz zuvor ein Brandansch­lag verübt.
ARCHIVFOTO: STEFAN PUCHNER/DPA Thomas Strobl, Innenminis­ter von Baden-Württember­g (CDU, rechts), im Juni 2021 mit Rabbiner Shneur Trebnik an der Synagoge in Ulm. Auf sie wurde kurz zuvor ein Brandansch­lag verübt.

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