Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Extremismus wird diffuser
Zahl beobachteter Personen 2021 erneut gestiegen
BERLIN (dpa/AFP) - Die Zahl der Menschen mit rechts- oder linksextremistischen Einstellungen ist in Deutschland im vergangenen Jahr erneut leicht gestiegen. Nur bei den Islamisten stellte der Bundesverfassungsschutz im Jahresbericht 2021 einen leichten Rückgang fest. Doch auch das ist nach Einschätzung der Kölner Behörde kein Grund zur Entwarnung. Vor allem von dschihadistisch motivierten Einzeltätern und Gruppen gehe weiter Gefahr aus.
Erstmals im Bericht aufgeführt ist das im April 2021 neu eingerichtete Beobachtungsobjekt „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“. Hierbei werden Gruppen und Akteure zusammengefasst, die sich keinem Lager zuordnen lassen, aber dazu neigen, Verfassungsgrundsätze außer Kraft setzen zu wollen – etwa durch die Verbreitung von Verschwörungstheorien, die die Demokratie in Zweifel ziehen.
BERLIN (dpa) - Rechts, links, islamistisch, antisemitisch, diffus: Der Extremismus bekommt in Deutschland immer mehr Schattierungen. Das zeigt der Verfassungsschutzbericht für 2021, den Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang am Dienstag in Berlin vorgestellt haben. „Das Bundesamt für Verfassungsschutz war in seiner Geschichte selten in einer so umfassenden Intensität gefordert wie gegenwärtig“, sagt Haldenwang.
Rechtsextremismus: Die Zahl der Menschen mit rechtsextremistischen Einstellungen ist erneut leicht gestiegen. Laut Bericht wuchs das Personenpotenzial im rechtsextremistischen Spektrum binnen eines Jahres um rund 1,8 Prozent auf 33 900 Menschen an. Die AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative (JA) und die „Anhänger des formal aufgelösten Personenzusammenschlusses „der Flügel“(Verdachtsfall) werden im Bericht als „Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien“aufgeführt. Dieser Kategorie rechnete der Verfassungsschutz im vergangenen Jahr 7500 Menschen zu.
Knapp 40 Prozent der Rechtsextremisten hält der Verfassungsschutz für gewaltorientiert. „Die größte extremistische Bedrohung für unsere Demokratie ist weiterhin der Rechtsextremismus“, betont Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD).
Sorge bereitet dem Verfassungsschutz, dass die in den USA entstandene rechte „Siege“-Ideologie in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewinnt – gerade unter Minderjährigen, die sich im Internet radikalisieren. Die Anhänger dieser Ideologie wollten „durch gezielte terroristische Akte gegen Infrastruktur, Angehörige von Minderheiten und demokratische politische Führungspersönlichkeiten“einen Zusammenbruch des „verhassten demokratischen Systems“herbeiführen.
„Reichsbürger“: Die Zahl der „Reichsbürger“ist laut Bericht gewachsen: von rund 20 000 auf nunmehr 21 000 Anhänger. Hier spielten wohl die Proteste gegen CoronaSchutzmaßnahmen eine Rolle. Die sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter zweifeln die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland an. Sie weigern sich oft, Steuern zu zahlen. Zu den rund 30 überregional aktiven Gruppierungen zählt der Inlandsgeheimdienst unter anderem Gruppen mit Namen wie „Staatenbund Deutsches Reich“oder „Königreich Deutschland“.
Linksextremismus: Einen Zuwachs um knapp 1,2 Prozent auf nunmehr 34 700 Menschen beobachtet der Verfassungsschutz im Linksextremismus. Der Anteil der Linksextremisten, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele ausüben oder dies zumindest billigen, lag demnach im vergangenen Jahr bei knapp 30 Prozent. Zunehmend professionell ist aus Sicht des Verfassungsschutzes die Aufklärung rechtsextremistischer Netzwerke und vermeintlicher Gegner durch sogenannte Antifa-Recherchegruppen.
Islamismus und islamistische Terroristen: Die Anhängerschaft islamistischer Gruppen ist nach Einschätzung der Kölner Behörde erstmals seit vielen Jahren leicht geschrumpft: um rund 1,5 Prozent auf 28 290 Menschen. An Attraktivität verloren demnach besonders salafistische Gruppen. Vor allem von dschihadistisch motivierten Einzeltätern und Kleinstgruppen gehe aber nach wie vor eine große Gefahr aus, warnt der Verfassungsschutz.
Neuer Phänomenbereich: Erstmals in einem Verfassungsschutzbericht aufgeführt ist das im April 2021 neu eingerichtete Beobachtungsobjekt „Demokratiefeindliche und/ oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“. In dieser Kategorie fasst der Inlandsgeheimdienst sehr unterschiedliche Gruppierungen und Akteure jenseits des klassischen Links-Rechts-Schemas zusammen: Gruppen und Einzelpersonen, die bestimmte, teilweise antisemitisch unterlegte Verschwörungstheorien verbreiten, das demokratische Staatswesen in Zweifel ziehen oder dieses rundheraus ablehnen. Dazu, wie groß die Zahl der Anhänger dieser heterogenen Szene ist, gibt es noch keine Einschätzung.
Ausländische Geheimdienste: Hauptakteure sind laut Bericht nach wie vor Russland, China, der Iran und die Türkei. Russische Spionage war 2021 den Angaben zufolge vor allem auf Fragen der Energieversorgung und europäische Diskussionsprozesse zu den EU-Sanktionen fokussiert. Wohl auch in Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seien „Ausforschungsaktivitäten“russischer Cyberakteure gegen Einrichtungen der kritischen Infrastruktur beobachtet worden. Chinesische Cyberakteure versuchten seit einigen Jahren vermehrt, personenbezogene Daten, etwa von Telekommunikationsunternehmen, Versicherungen, Reiseunternehmen, Online-Diensten oder Behörden zu erlangen. Auch mit dem Ziel, regierungskritische Menschen „zu überwachen und zu verfolgen“. Sie werde noch vor der parlamentarischen Sommerpause eine Cybersicherheit-Strategie vorstellen, kündigte Faeser an.