Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Für die Industrie zu viel, für den Planeten zu wenig
Am Donnerstag stimmt das Europaparlament über das umstrittene Klimapaket ab – Diskutiert wird auch das Verbot von Verbrennungsmotoren
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BRÜSSEL - Das Gesetzespaket berührt die Existenz von 450 Millionen Europäern: Diese Woche stimmt das Europaparlament seine Position bei den Klimaverhandlungen ab, die den CO2-Ausstoß in der EU bis 2030 um 55 Prozent reduzieren sollen. Wenn dieses Ziel auch nur annähernd erreicht werden soll, sind gravierende Einschnitte und Umstellungen beim Individualverkehr und im Wohnungsbereich, aber auch weitere Belastungen für die Industrie nötig. Für besondere Aufmerksamkeit sorgt die Forderung, den Verbrennungsmotor ab 2035 komplett zu verbieten.
Wie schmerzhaft die Änderungen am Ende sein werden, hängt aber nur zum Teil davon ab, worauf sich die Abgeordneten bei der Marathonabstimmung am heutigen Mittwoch verständigen. Nach der Sommerpause geht es im sogenannten Trilogformat weiter. Dann müssen EU-Kommission und Mitgliedsstaaten einen Kompromiss finden, den auch das Europaparlament akzeptieren kann. Dort verlaufen die Konfliktlinien nach klassischem Muster: Die Grünen kritisieren den starken Druck der Industrielobby, dem die Abgeordneten seit Monaten ausgesetzt seien. Die Zielvorgaben der EUKommission gehen ihnen nicht weit genug. Das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, sei damit nicht mehr erreichbar. Die Konservativen versuchen, die größten Härten für Unternehmen und Privatleute abzuwenden. Die Sozialisten verlangen großzügige Ausgleichszahlungen für die ärmeren Haushalte. Und die extreme Rechte lehnt jede Form von Klimaschutz rundweg ab.
Kernpunkt der Reform ist die Verteuerung der Verschmutzungsrechte im Emissionshandel ETS. Kostenlose
Zertifikate für bestimmte Industriezweige sollen schrittweise auslaufen, die übrigen so verknappt werden, dass der Preis hoch bleibt. Auch der Schiffsverkehr soll endlich in das System einbezogen werden. Die Grünen wünschen sich eine Untergrenze, unter die der Preis pro Tonne CO2 nicht fallen darf. Das aber ist im Europaparlament umstritten. Um die Industrie vor billiger und nicht den strengen EU-Gesetzen unterworfener Konkurrenz aus dem außereuropäischen Ausland zu schützen, soll eine CO2-Ausgleichsabgabe für Importe eingeführt werden.
Ab 2026 soll für den Individualverkehr und Wohnungen schrittweise ein zweites ETS eingeführt werden. Um soziale Härten abzufedern müssen die Mitgliedsstaaten detaillierte „soziale Klimapläne“aufstellen mit genauen Informationen darüber, welche Haushalte von Energieund Mobilitätsarmut durch steigende Preise betroffen sein könnten. 44,5 Milliarden Euro stellt die EU für den Zeitraum von 2024 bis 2027 für diese Haushalte als Ausgleichszahlungen zur Verfügung. Die Mitgliedsstaaten müssen diesen Betrag je nach Kategorie und Land mit 40 bis 60 Prozent nationaler Kofinanzierung aufstocken.
Insgesamt stehen am Mittwoch 13 neue Gesetze, acht Gesetzesänderungen und fünf neue Gesetzesvorschläge zur Abstimmung. Da die am Mittag dafür vorgesehene Zeit vermutlich nicht ausreicht, wird in den Abendstunden weiter abgestimmt. Der Gasstreit mit Russland, die steigenden Energiekosten und die allgemeine Unsicherheit haben natürlich bei den Wählern Spuren hinterlassen. Bei vielen Abgeordneten ist der Elan, für den Klimaschutz Opfer zu bringen, dadurch deutlich gebremst. Noch in der Nacht zu Donnerstag werden sich Fachleute aus Industrie und Umweltverbänden über die Ergebnisse beugen und die Beschlüsse interpretieren. Man muss kein Prophet sein, um schon jetzt voraus zu sagen, dass die Unternehmen das Gesetzespaket als weitere Bedrohung für den Industriestandort Europa sehen werden. Die Umweltverbände hingegen werden die Beschlüsse für unzureichend halten, um den Planeten zu retten. Recht haben beide Seiten.