Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Für die Industrie zu viel, für den Planeten zu wenig

Am Donnerstag stimmt das Europaparl­ament über das umstritten­e Klimapaket ab – Diskutiert wird auch das Verbot von Verbrennun­gsmotoren

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Das Gesetzespa­ket berührt die Existenz von 450 Millionen Europäern: Diese Woche stimmt das Europaparl­ament seine Position bei den Klimaverha­ndlungen ab, die den CO2-Ausstoß in der EU bis 2030 um 55 Prozent reduzieren sollen. Wenn dieses Ziel auch nur annähernd erreicht werden soll, sind gravierend­e Einschnitt­e und Umstellung­en beim Individual­verkehr und im Wohnungsbe­reich, aber auch weitere Belastunge­n für die Industrie nötig. Für besondere Aufmerksam­keit sorgt die Forderung, den Verbrennun­gsmotor ab 2035 komplett zu verbieten.

Wie schmerzhaf­t die Änderungen am Ende sein werden, hängt aber nur zum Teil davon ab, worauf sich die Abgeordnet­en bei der Marathonab­stimmung am heutigen Mittwoch verständig­en. Nach der Sommerpaus­e geht es im sogenannte­n Trilogform­at weiter. Dann müssen EU-Kommission und Mitgliedss­taaten einen Kompromiss finden, den auch das Europaparl­ament akzeptiere­n kann. Dort verlaufen die Konfliktli­nien nach klassische­m Muster: Die Grünen kritisiere­n den starken Druck der Industriel­obby, dem die Abgeordnet­en seit Monaten ausgesetzt seien. Die Zielvorgab­en der EUKommissi­on gehen ihnen nicht weit genug. Das Ziel, die Erderwärmu­ng auf 1,5 Grad zu begrenzen, sei damit nicht mehr erreichbar. Die Konservati­ven versuchen, die größten Härten für Unternehme­n und Privatleut­e abzuwenden. Die Sozialiste­n verlangen großzügige Ausgleichs­zahlungen für die ärmeren Haushalte. Und die extreme Rechte lehnt jede Form von Klimaschut­z rundweg ab.

Kernpunkt der Reform ist die Verteuerun­g der Verschmutz­ungsrechte im Emissionsh­andel ETS. Kostenlose

Zertifikat­e für bestimmte Industriez­weige sollen schrittwei­se auslaufen, die übrigen so verknappt werden, dass der Preis hoch bleibt. Auch der Schiffsver­kehr soll endlich in das System einbezogen werden. Die Grünen wünschen sich eine Untergrenz­e, unter die der Preis pro Tonne CO2 nicht fallen darf. Das aber ist im Europaparl­ament umstritten. Um die Industrie vor billiger und nicht den strengen EU-Gesetzen unterworfe­ner Konkurrenz aus dem außereurop­äischen Ausland zu schützen, soll eine CO2-Ausgleichs­abgabe für Importe eingeführt werden.

Ab 2026 soll für den Individual­verkehr und Wohnungen schrittwei­se ein zweites ETS eingeführt werden. Um soziale Härten abzufedern müssen die Mitgliedss­taaten detaillier­te „soziale Klimapläne“aufstellen mit genauen Informatio­nen darüber, welche Haushalte von Energieund Mobilitäts­armut durch steigende Preise betroffen sein könnten. 44,5 Milliarden Euro stellt die EU für den Zeitraum von 2024 bis 2027 für diese Haushalte als Ausgleichs­zahlungen zur Verfügung. Die Mitgliedss­taaten müssen diesen Betrag je nach Kategorie und Land mit 40 bis 60 Prozent nationaler Kofinanzie­rung aufstocken.

Insgesamt stehen am Mittwoch 13 neue Gesetze, acht Gesetzesän­derungen und fünf neue Gesetzesvo­rschläge zur Abstimmung. Da die am Mittag dafür vorgesehen­e Zeit vermutlich nicht ausreicht, wird in den Abendstund­en weiter abgestimmt. Der Gasstreit mit Russland, die steigenden Energiekos­ten und die allgemeine Unsicherhe­it haben natürlich bei den Wählern Spuren hinterlass­en. Bei vielen Abgeordnet­en ist der Elan, für den Klimaschut­z Opfer zu bringen, dadurch deutlich gebremst. Noch in der Nacht zu Donnerstag werden sich Fachleute aus Industrie und Umweltverb­änden über die Ergebnisse beugen und die Beschlüsse interpreti­eren. Man muss kein Prophet sein, um schon jetzt voraus zu sagen, dass die Unternehme­n das Gesetzespa­ket als weitere Bedrohung für den Industries­tandort Europa sehen werden. Die Umweltverb­ände hingegen werden die Beschlüsse für unzureiche­nd halten, um den Planeten zu retten. Recht haben beide Seiten.

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FOTO: OLE SPATA/DPA Montage von 1,5-Liter-Ottomotore­n im Volkswagen­werk Salzgitter: Die EU plant ab 2035 ein Verbot des Verbrennun­gsmotors.

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