Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Wahre Lügen
Zu den wichtigsten Aufgaben im Rahmen der Kindererziehung gehört naturgemäß die Vermittlung von Sitte, Anstand und Moral. Womit Eltern oft genug sofort vor einem Dilemma stehen, weil sie womöglich selbst wenig bis keine Ahnung von derlei ethischen Obliegenheiten haben. Aber auch gefestigte Persönlichkeiten können nach der mühsamen Kinderproduktion rasch an ihre Grenzen stoßen, wenn es gilt, den Säugling auf dem langen Weg in ein vorbildliches Leben bis zur Volljährigkeit zu begleiten. Ohne nun alle Zehn Gebote der Reihe nach bemühen zu wollen, die zwar biblisch, aber im Grunde universell sind, nehmen wir das Beispiel der Lüge.
Dem Kinde einzubläuen, immer nur die Wahrheit zu sagen, und nichts als die Wahrheit, niemals auch nur zu flunkern, verkompliziert nicht nur das Leben von Tochter oder Sohn. Auch die Eltern müssen leiden. Man erinnere sich nur an folgende Szene, die schon als Klassiker gelten darf: Es klingelt an der Türe, das Kind macht auf – davor steht Tante Erna. Sagt das Kind: „Oh, gut, dass du kommst. Papa hat gerade gesagt ,Die hat uns gerade noch gefehlt’.“ Natürlich sollte beim Umgang mit der Wahrheit dennoch ein gutes Augenmaß eingeübt werden. Wer zum Beispiel mit seiner Regierungsmehrheit Verordnungen erlässt, an die er sich selbst nicht hält, hat den moralischen Bogen eindeutig überspannt. An dieser Stelle herzliche Grüße nach London an Premier Boris Johnson, der anlässlich seines knapp überstandenen Misstrauensvotums jetzt ganz legal eine rauschende Party feiern kann. Vielleicht kommt Tante Erna ja auch.