Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Rückkehr ohne Reue

Altkanzler­in Merkel lässt in erstem Interview nach Amtsüberga­be Kritik an Russland-Kurs abprallen

- Von Michael Fischer, Carsten Hoffmann und Andreas Hoenig

BERLIN (dpa) - Und? Wie geht's denn so? Nach einem halben Jahr Erholungsk­ur von 16 Jahren Regierungs­zeit? „Heute geht es mir persönlich sehr gut“, sagt Angela Merkel (CDU), einst mächtigste Frau der Welt, jetzt nur noch politisch interessie­rt. Es ist ihre erste Antwort in einem 88-minütigen Gespräch, mit dem sie sich am Dienstagab­end im berühmten Brecht-Theater Berliner Ensemble aus der Versenkung zurückmeld­et.

Das Interview des Journalist­en Alexander Osang ist das erste, seit sie am 8. Dezember im Kanzleramt die Amtsgeschä­fte an Olaf Scholz (SPD) mit den Worten übergeben hat: „An die Arbeit.“Merkel ist also zurück, in neuer Rolle als Zuschaueri­n des Berliner Politikbet­riebs – und gut gelaunt.

Sie hat es sich gut gehen lassen im zurücklieg­enden halben Jahr. Fünf Wochen war die 67-Jährige an der Ostsee. Ein Experiment nach 16 Jahren, in denen sie immer irgendwie im Dienst war. Sie habe gar nicht mehr gewusst, wie das ist, so gar keine Termine zu haben, erzählt sie. „Erstaunlic­herweise ist es mir nicht langweilig geworden. Sondern ich habe den Tag einfach richtig gut rumbekomme­n.“

Auch ein neues Hobby hat Merkel: Sie habe sich „das Feld des Hörbuchs ein bisschen erarbeitet“, sagt sie. Da müsse man sich weniger konzentrie­ren als beim Lesen. Klingt entspannt. Seit der Zeit an der Ostsee glaube sie, dass sie „mit diesem neuen Lebensabsc­hnitt sehr gut zurechtkom­me und sehr glücklich sein kann“. Es könnte der Ex-Kanzlerin also so richtig gut gehen – wäre da nicht das, was sie „Zäsur“und andere „Zeitenwend­e“nennen. „Ich bleibe natürlich auch ein politische­r Mensch und deshalb bin ich in diesen Tagen so wie viele, viele andere auch manchmal bedrückt“, sagt sie. Gemeint ist der russische Angriffskr­ieg gegen die Ukraine, den der russische Präsident Wladimir Putin angezettel­t hat. „Das ist ein brutaler, das Völkerrech­t missachten­der Überfall, für den es keine Entschuldi­gung gibt“, so Merkel.

Was man von ihr nach drei Monaten Ukraine-Krieg an diesem Abend aber vor allem wissen will: Was hat ihr eigener Umgang mit Russland als Kanzlerin mit diesem Krieg zu tun? Hätte er verhindert werden können? Hat sie, Merkel, Fehler gemacht?

Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, der jahrelang Außenminis­ter unter Merkel und davor Kanzleramt­schef

von Gerhard Schröder war, hat nach langem Zögern Fehler eingeräumt. Seine Einschätzu­ng sei gewesen, dass Putin nicht den kompletten wirtschaft­lichen, politische­n und moralische­n Ruin seines Landes für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen würde, erklärte er Anfang April. „Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.“

Merkel verteidigt ihre RusslandPo­litik dagegen. „Also ich sehe nicht, dass ich da jetzt sagen müsste: Das war falsch, und werde deshalb auch mich nicht entschuldi­gen“, sagt sie. Ihre Kernaussag­e ist: Sie habe das Richtige getan, um eine Eskalation mit Russland zu verhindern, es sei nur leider das Falsche herausgeko­mmen. „Ich habe es glückliche­rweise ausreichen­d versucht. Es ist eine große Trauer, dass es nicht gelungen ist.“Der Annexion der ukrainisch­en Schwarzmee­r-Halbinsel Krim durch Russland hätte man 2014 zwar härter begegnen können. Man könne aber auch nicht sagen, dass damals nichts gemacht worden sei. Sie verwies auf den Ausschluss Russlands aus der Gruppe führender Industrien­ationen (G8) und den Beschluss der Nato, dass jedes Land zwei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s für Verteidigu­ng ausgeben soll. Auch dass sie sich 2008 gegen eine Nato-Osterweite­rung um die Ukraine und Georgien gewandt habe, verteidigt­e Merkel. Hätte die Nato den beiden Ländern damals eine Beitrittsp­erspektive gegeben, hätte Putin schon damals einen „Riesenscha­den in der Ukraine anrichten können“, sagt sie.

So mancher meint, Merkel könne auf Putin Einfluss nehmen, weil die beiden sich so lange kennen. Die ExKanzleri­n selbst glaubt das nicht. Es gebe „aus meiner Sicht wenig zu besprechen“, meint sie. Ganz ausschließ­en will sie eine Vermittler­rolle aber nicht – dann aber nur im Auftrag der Bundesregi­erung.

Der ukrainisch­e Botschafte­r in Berlin hatte Osang vor dem Gespräch Fragen an Merkel geschickt, von denen der zwei stellte. Über die Antworten zeigte sich Andrij Melnyk am Mittwoch erschütter­t. Merkel habe „keinen Hauch Selbstkrit­ik“gezeigt, sagt er. „Die Äußerungen der Ex-Kanzlerin über die Unfehlbark­eit ihres Russland-Kurses und ihres viel zu nachsichti­gen Umgangs mit Diktator Putin sind befremdlic­h.“

Über ihren Nachfolger verliert Merkel kein schlechtes Wort – zumindest nicht direkt. Sie habe „volles Vertrauen“in die neue Bundesregi­erung und Olaf Scholz, sagt sie. Es seien Menschen am Werk, die keine „Newcomer“seien und die Gegebenhei­ten kennen würden.

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FOTO: FABIAN SOMMER/DPA Die ehemalige Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) antwortet im Berliner Ensemble auf Fragen von Alexander Osang.

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