Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Long-Covid gibt weiter Rätsel auf
Viele Menschen leiden nach Corona-Erkrankung an Spätfolgen – Diffuses Krankheitsbild
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BERLIN (dpa/sz) - Nicht immer ist mit Erreichen des Genesenenstatus die Corona-Infektion Geschichte. Bei manchen Menschen sorgen die Langzeitfolgen für großen Leidensdruck, Frustration – und vor allem Ratlosigkeit. Denn auch nach über zwei Jahren Corona ist das Wissen zu LongCovid noch lückenhaft. Während zahlreiche Studien auf eine Annäherung an das Krankheitsbild abzielen, mahnen Experten die Versorgungssituation an. Wie Fachleute aktuell auf die Krankheit blicken und wie Informationsangebote Licht ins Dunkel bringen sollen:
Was gilt als Long-Covid? Als Long-Covid definieren die deutschen Patientenleitlinien Beschwerden, die länger als vier Wochen nach der Corona-Infektion bestehen, als Unterform Post Covid dauern sie länger als zwölf Wochen an. In einer Stellungnahme des Corona-Expertenrats der Bundesregierung aus dem Mai heißt es, laut Studien entwickle die Mehrheit derer, die mit schwerem Covid-19-Verlauf auf Intensivstationen behandelt wurden, Langzeitkomplikationen. Auch nach milder Infektion erfüllten zehn Prozent die Post-Covid-Kriterien.
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Wie viele Betroffene gibt es in Deutschland? Jördis Frommhold, Lungenfachärztin und Chefärztin der Median Klinik Heiligendamm, geht von Hunderttausenden LongCovid-Betroffenen in Deutschland aus. Konsens in Expertenkreisen herrscht zur Annahme, dass vollständiger Impfschutz das Risiko für Langzeitfolgen nach einer CoronaInfektion klar verringert. Einer englischen Studie zufolge reduzieren Grundimpfungen und Booster das Long-Covid-Risiko um 50 Prozent,
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einer israelischen Studie zufolge um zwei Drittel. Dennoch verwies Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kürzlich via Twitter auf Basis britischer Daten darauf, dass auch viele Geimpfte in der OmikronWelle von Long-Covid betroffen seien. Trotzdem wäre die Zahl ohne Impfung viel höher, sagte er.
Wie sieht das Krankheitsbild aus? Frommhold betont, wie groß die Abstufung bei möglichen Symptomen sei – viele schränkten im Alltag kaum oder gar nicht ein, andere könnten im Extremfall zu längerfristiger Arbeitsunfähigkeit oder Bettlägerigkeit führen. Christoph Kleinschnitz, Direktor der neurologischen Klinik an der Uniklinik Essen, berichtet von einem „riesigen Symptomkorb“. Im klinischen Alltag habe er über 500 LongCovid-Patienten gesehen, die Daten von über 170 flossen in eine jüngst zur Veröffentlichung eingereichte Studie ein. Zu den häufigsten Symptomen gehört eine pathologische, als „Fatigue“bezeichnete Müdigkeit. Beeinträchtigungen der Leistungsund Merkfähigkeit, der Konzentration oder ein „Gehirnnebel“(Brain Fog) treten auch oft auf. Wortfindungsstörungen und weitere kognitive Einschränkungen werden häufig beklagt, ebenso wie allgemeine Schwäche, Atemnot oder Kurzatmigkeit und andauernder Husten. Im Expertenratpapier heißt es, „strukturelle Organauffälligkeiten verbleiben häufig nach einem schweren Covid-19-Verlauf, sind jedoch nach milden Krankheitsverläufen selten“.
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Wen trifft Long-Covid? Kleinschnitz erklärte dazu in einem WDRInterview, dass vor allem Patienten anfällig für Long-Covid waren, die schon psychologisch-psychiatrische Vorerkrankungen hatten – etwa Depressionen, Angststörungen oder
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posttraumatische Belastungsstörungen. „Dann haben wir uns die Berufe näher angeguckt. Und wir fanden, dass vor allem Menschen in Verwaltungsberufen, Lehrberufen oder im Beamtentum sich signifikant häufiger bei uns in der Long-Covid-Ambulanz vorstellten als Patientinnen und Patienten, die eher handwerkliche Berufe haben – also Berufe wie Bauarbeiter oder Berufe mit starker körperlicher Arbeit“, so Kleinschnitz. Dies erklärt der Experte wie folgt: „Es hängt sicherlich damit zusammen, dass Menschen, die eher in sitzender Tätigkeit oder geistig arbeiten, vielleicht auch eher ihren Gesundheitsstatus reflektieren und sich generell mehr für Gesundheitsthemen interessieren.“Auch könnten sich Leute, die körperlich arbeiten, oder Selbstständige Ausfälle „nicht ganz so gut leisten“, so Kleinschnitz.
Bald mehr Angebote für Betroffene? Der Expertenrat mahnt in seinem Papier den Ausbau flächendeckender Angebote für Menschen mit Folgebeschwerden an. Mit Blick auf die steigende Zahl Betroffener reiche das Versorgungsangebot längst nicht aus. Etabliert werden müssten Spezialambulanzen
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und Reha-Kliniken. Zudem brauche es mehr Forschungsförderung und gezielte Aufklärung. Eine Informationsoffensive hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung jüngst gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium durch ein Onlineportal gestartet.
Was ist zur Therapie bekannt? Am besten begegne man der Erkrankung mit einem Konzept, das verschiedene Disziplinen der Medizin und Psychologie einschließe, so Kleinschnitz. „Die eine Pille gegen Long-Covid, die wird es aus meiner Sicht nie geben.“Der erste Schritt sei „zuhören, ernst nehmen, gründlich untersuchen“. Betroffene dürften sich nicht zurückziehen und sollten, so gut es geht, im Alltag bleiben, sich aber nicht überfordern. Long Covid sei oft auch ein Problem der Leistungsgesellschaft, sagt Frommhold. Mediziner versuchen, die individuellen Symptome der Betroffenen zu lindern. So können bestimmte Atemtechniken Atemnot oder Kurzatmigkeit lindern, Physiotherapie kann bei Muskelschwäche Abhilfe schaffen.
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Wie lange dauert Long Covid? Bei den meisten ihm bekannten Patienten seien die Beschwerden nach sechs, spätestens neun Monaten deutlich verbessert oder weg, sagt Kleinschnitz. Einige hätten aber auch länger mit Symptomen zu kämpfen. Er weist aber auch darauf hin, dass aus seiner Sicht bei vielen Betroffenen zunächst im psychologischen und psychotherapeutischen Bereich anzusetzen sei, bevor teils strapaziöse und sehr teure medizinische Therapieverfahren gewählt würden. Das möchte er nicht falsch verstanden wissen: „Das bedeutet nicht, dass sich die Leute ihre Symptome einbilden oder simulieren.“Symptomatik und Leidensdruck seien klar da.