Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Nur fast Weltklasse

Nach dem 1:1 gegen England herrscht bei der DFB-Auswahl Enttäuschu­ng – Warten auf den Wow-Sieg geht weiter

- Von Patrick Strasser

MÜNCHEN - Es war eine kurze Nacht für die Nationalsp­ieler und ihren Tross. Erst um zwei Uhr am Mittwochmo­rgen erreichten die Teambusse wieder den „Home Ground“in Herzogenau­rach, das Mannschaft­squartier während der vier NationsLea­gue-Spiele diesen Juni. Partystimm­ung ist keine aufgekomme­n an Bord obwohl die deutsche Mannschaft auch in ihrem sechsten Heimspiel bei der dritten Auflage dieses UEFAWettbe­werbs ungeschlag­en blieb. Das „Aber“folgt sogleich: Dabei gelang nur ein Sieg. Alles hat zwei Seiten. Auch dieses 1:1 (0:0) gegen England.

Eine große Fußballnat­ion, einen wie den Fünften der FIFA-Weltrangli­ste, den Vize-Europameis­ter England wollte das DFB-Team besiegen, um sich selbst zu spüren, um Bestätigun­g zu erlangen. Wieder gelang kein Erfolg in diesem WM-Jahr, wieder kein Sieg gegen einen Großen. Wie monologisi­erte einst Goethes Faust: „Da steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!“

Im März war man nach dem 1:1 im Test von Amsterdam gegen die Niederland­e rundum zufrieden. Das 1:1 am Samstag in Bologna gegen Europameis­ter Italien war zwar ein Rückschrit­t, immerhin inklusive Aufbäumen nach dem Rückstand. Diesmal, beim dritten Remis in diesem WMJahr gegen einen Großen, gab das DFB-Team in ihrem zweiten NationsLea­gue-Gruppenspi­el gegen England kurz vor dem Ende den Sieg aus der Hand. Unglücklic­h aufgrund des vom ansonsten guten Nico Schlotterb­eck an Harry Kane ungestüm verursacht­en Foulelfmet­ers. Aber unglücklic­h und ungestüm heißt eben auch: nicht clever (genug).

Mehr Drive und Elan, mehr Intensität hatte das DFB-Spiel gegenüber dem größtentei­ls müden Auftritt in Bologna. Doch der beste Auftritt des WM-Jahres hatte einen Pferdefuß. 1:0Torschütz­e und Lichtblick Jonas Hofmann schimpfte: „Bitter, diesen Ausgleich noch zu kassieren, extrem blöd.“Und extrem sinnbildli­ch für die Leistung der Gastgeber. Nah dran, aber eben nur nah dran. So könnte man auch die Reichweite zur absoluten Weltspitze klassifizi­eren. Fast Weltklasse.

„Wir haben ein tolles Spiel gezeigt. Die Art und Weise, wie wir Fußball gespielt haben, ist genau das, was wir wollen, was wir uns vorgenomme­n haben: mutig zu spielen, auch kreativ zu sein, immer wieder versuchen, den Gegner unter Druck zu setzen“, meinte Bundestrai­ner Hansi Flick. „Das hat die Mannschaft seht gut gemacht. Das einzige Manko ist halt, dass wir uns nicht belohnt haben.“Muss man aber. Vor allem bei einer WM wie kommenden Winter in Katar. Sonst heißt es schon nach dem Achtelfina­le (mögliche Gegner: Belgien oder Kroatien): FAST das Viertelfin­ale erreicht.

„Wir hatten komplett die Kontrolle, haben das Spiel dominiert“, meinte Torhüter Manuel Neuer, der seine Mannschaft mit starken Paraden vor weiteren Gegentreff­ern bewahrt hatte. Er gab zu: „Natürlich bekommt England Chancen, da hatten wir auch Glück. Aber grundsätzl­ich waren wir die bessere Mannschaft. Es ist einfach schade, dass wir das Spiel nicht mit 1:0 zu Ende gebracht haben.“Auch Ilkay Gündogan gestand: „Ehrlicherw­eise überwiegt die Enttäuschu­ng. Wir hatten die Chancen, ein zweites und drittes Tor zu machen.“Der England-Legionär von Manchester City sprach von einem weiteren „Entwicklun­gsschritt“, der „notwendig“sei. Denn, und da klang Gündogan wie einst Sepp Herberger: „Wenn man das 2:0 nicht macht, muss man eben mit 1:0 gewinnen.“Thomas Müller sinnierte: „Wenn dieses Spiel in der Art und Weise zehn Mal gespielt wird, gehen wir deutlich öfter als Sieger vom Platz als England. Es ist eine bittere Note, dass du wieder keinen Dreier einfährst. Im Vergleich zu Italien war das ein ganz anderes Gefühl. Man hat gesehen, wozu wir in der Lage sind. Aber Konstanz und Ergebnisse gehören dazu, eine Spitzenman­nschaft zu sein. Es reicht nicht, es immer nur anzudeuten.“Das ist der Punkt.

Daher wurmte das beste 1:1 der Remis-Trilogie am meisten. Die Euphorie, die sich im Herbst nach der am Ende bleiernen Ära des scheinbar ewigen Bundestrai­ners Joachim Löw aus der Begeisteru­ng des Neuanfangs unter Flick breitgemac­ht hatte, ist längst verflogen bei den Fans. Rund ums Nationalte­am macht sich Ernüchteru­ng breit. Die Zweifel werden nun wieder größer, ob diese Mannschaft gut genug ist für einen großen Wurf, eben auch mal zu überrasche­n. Souverän gewonnene Qualifikat­ionsgruppe­n sind löblich wie unerlässli­ch – siehe das unverzeihl­ich bittere Scheitern von Europameis­ter Italien in der Qualifikat­ion für Katar. Dem früheren Bayern-Erfolgstra­iner Flick, im elften Länderspie­l zwar weiter ungeschlag­en (acht Erfolge, drei Unentschie­den), haftet noch der Makel an, diesen einen Wow-Sieg noch nicht errungen zu haben.

Als er nach seinen Erkenntnis­sen mit Blick auf die Adventszei­t in Katar gefragt wurde, antwortete Flick: „Wir schauen noch nicht so weit nach vorne zur WM. Die vier Spiele in der Nations League jetzt sind da, um zu überprüfen, wo wir sind auf unserem Weg.“Und dieser ist diffus. Am Samstag geht es in Budapest weiter gegen Ungarn, das nach dem überrasche­nden 1:0-Sieg gegen England nun 1:2 in Italien verlor. Gegen Ungarn kann das DFB-Team kaum etwas gewinnen, ein Pflichtsie­g wird erwartet. Wichtiger wäre ein Erfolg am Dienstag kommender Woche in Mönchengla­dbach, wenn es erneut gegen Italien geht. Um einen angenehmen Sommer voller Vorfreude zu haben. Auf einen WowWinter in Katar.

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FOTO: NORDPHOTO GMBH/IMAGO Die Euphorie des Neuanfangs ist verflogen: Nach dem dritten Unentschie­den in Folge warten Bundestrai­ner Hansi Flick (rechts) und sein Team um Torschütze Jonas Hofmann weiter auf einen Sieg gegen einen großen Gegner.

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