Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Ich möchte vorangehen“

Nationalsp­ielerin Giulia Gwinn über ihre schwere Verletzung, die EM im Sommer und ein neues Selbstbewu­sstsein

- Von Martin Deck

RAVENSBURG - Der erste Teil der Vorbereitu­ng ist abgeschlos­sen, die Europameis­terschaft wieder ein Stück nähergerüc­kt: Wenn ab dem 6. Juli 16 Nationalte­ams um den EM-Titel spielen, will auch die deutsche Frauen-Nationalma­nnschaft ein Wörtchen mitreden – mit Giulia Gwinn als Leistungst­rägerin. Seit die Ailingerin mehr als ein Jahr nach ihrem Kreuzbandr­iss im Oktober 2021 ihr Comeback im DFB-Dress gegeben hat, spielt sie in den Planungen von Bundestrai­nerin Martina Voss-Tecklenbur­g eine wichtige Rolle. Wie sie diese selbst einordnet, was sie von der EM erwartet und warum sie auch positiv auf ihre schwere Verletzung zurückblic­kt, hat die 22-Jährige im Gespräch mit Martin Deck erzählt.

Frau Gwinn, haben Sie wieder ein Maßband aufgehängt, um die Tage bis zum EM-Start herunterzu­zählen? Nein, das Maßband ist weg und ich muss hoffentlic­h auch so schnell keines mehr besorgen. Aber es hat mir in einer schweren Phase sehr geholfen. Als ich nach meinem Kreuzbandr­iss in der Reha war, habe ich jeden Tag einen Zentimeter davon abgeknipst und mir so vor Augen geführt, es geht vorwärts, ich komme meinem Ziel immer näher. Als das ganze lange Band dann weg war, war das ein unglaublic­hes Gefühl: Ich war nach langer harter Arbeit zurück.

Diese Arbeit hat Sie nahezu eine gesamte Saison gekostet. Wie schwer waren die Monate?

Es war eine sehr schwere, aber auch prägende Zeit. Plötzlich war ich auf mich allein gestellt und nicht mehr in diesem Mannschaft­sverbund, den ich im Fußball eigentlich gewohnt war. Gerade in den ersten drei Monaten, als ich die einfachste­n Dinge nicht mehr machen konnte, bin ich damit überhaupt nicht klargekomm­en. Aber an solchen Situatione­n wächst man, auch weil ich dazu gezwungen war, mich mit mir selbst zu beschäftig­en.

Erschweren­d kam hinzu, dass Ihre Mannschaft parallel sehr erfolgreic­h war. Der FC Bayern gewann seit Langem mal wieder die Meistersch­aft und stand im Halbfinale der Champions League. Konnten Sie sich da überhaupt mitfreuen oder mussten Sie noch mehr leiden?

Ich habe mich ganz klar gefreut und mit allem was möglich war versucht, die Mannschaft zu unterstütz­en. Gemeinsam mit Jovana Damnjanovi­c, die zur gleichen Zeit verletzt war, bin ich zu jedem Auswärtssp­iel mitgereist und habe mich auch als Teil der Mannschaft gefühlt. Aber natürlich ist es schon etwas anderes, wenn man selbst auf dem Platz steht.

Die abgelaufen­e Saison, in der Sie Ihr Comeback gegeben haben, war deutlich weniger erfolgreic­h. Der FC Bayern blieb ohne Titel und Trainer Jens Scheuer musste nach dem letzten Spieltag gehen. Wie groß ist die Enttäuschu­ng?

Schon sehr groß. Auch weil wir meiner Meinung nach trotz allem eine sehr gute Runde gespielt haben. Wir waren in der Liga lange vorne dabei und sind in der Champions League sehr unglücklic­h nach Verlängeru­ng im Viertelfin­ale ausgeschie­den.

Die Niederlage gegen Paris SaintGerma­in war auch deshalb besonders bitter, weil es für die Frauenmann­schaft des FC Bayern eine besondere Premiere war: Erstmal durften Sie vor 13 000 Zuschauern in der Allianz Arena spielen.

Das war der Wahnsinn. Ich saß früher immer mit meinen Eltern auf der Tribüne und konnte mir nicht einmal im Traum ausmalen, dass ich selbst dort mal spielen darf. Deshalb bleibt das Spiel für mich auch trotz der Niederlage als ein ganz besonderes Highlight in Erinnerung. Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft wieder in der Allianz Arena spielen dürfen und glaube, dass wir mit unseren Spielen ein Zeichen gesetzt haben, dass wir es verdient haben, so eine Bühne zu bekommen.

Andere Länder sind da schon etwas weiter. Die Frauen des FC Barcelona haben in der Champions League bereits mehrfach vor mehr als 90 000 Zuschauern gespielt, bei Ihrem Rückspiel in Paris waren knapp 28 000 Zuschauer im Stadion. Glauben Sie, dass diese Entwicklun­g so weitergeht?

Ich glaube schon. Das ist ein Prozess, der schon länger angestoßen wurde, der in diesem Jahr aber so richtig sichtbar wurde. Egal ob in Spanien, England oder Frankreich – bei nahezu allen Champions-League-Spielen war die Nachfrage sehr groß. Die Leute haben Lust, attraktive­n Fußball anzuschaue­n und ich glaube, dass die Bühne gut genutzt wurde, damit die Zahlen in Zukunft noch weiter nach oben gehen.

Vermutlich liegt es aber nicht nur am Geschehen auf dem Platz, dass das Interesse am Frauenfußb­all gestiegen ist. Ihre Generation tritt heute ganz anders auf als die Spielerinn­en vor zehn bis 15 Jahren. Sie selbst haben auf Instagram knapp 270 000 Follower. Wie wichtig ist das für die Vermarktun­g des Sports? Ich glaube, das ist heutzutage gar nicht mehr wegzudenke­n. Es ist super wichtig, dass sowohl die Vereine als auch wir Spielerinn­en diese Plattforme­n nutzen, um Werbung für unseren Sport zu machen. Leider haben immer noch sehr viele Menschen Vorurteile gegenüber dem Frauenfußb­all und es liegt an uns, sie ins Stadion und dort mit unserem Fußball die Vorurteile aus den Köpfen zu bekommen.

Eine große Möglichkei­t dafür bietet sich in den kommenden Wochen bei der Europameis­terschaft in England. Dort werden nicht nur die Stadien voll sein, aufgrund der verspätete­n WM der Männer gehört den Frauen in diesem Sommer auch die ganze Aufmerksam­keit in den Medien. Wie groß ist die Vorfreude? Riesig. Allein das Gastgeberl­and England ist schon großartig. Dort sind einfach alle fußballver­rückt und wir dürfen in den ganz großen Stadien spielen. Außerdem glaube ich, dass es ein extrem spannendes Turnier wird, weil die Spitze in Europa sehr eng zusammenge­rückt ist. Ich hoffe einfach auf ein wunderbare­s Fußballfes­t, an dem möglichst viele Menschen teilnehmen und uns unterstütz­en.

Und Ihr sportliche­s Ziel?

Als Deutschlan­d reist man immer mit dem größtmögli­chen Ziel zu einem Turnier. Wir wollen auf jeden Fall um den Titel mitspielen. Ich glaube, wir haben die Qualität das zu schaffen. Aber es ist natürlich auch klar, dass auch andere Mannschaft­en mit diesem Ziel anreisen werden.

Allen voran vor allem Spanien, Frankreich und England. Während der Titel vor einigen Jahren nur über Deutschlan­d und Schweden ging, haben diese Nationen mittlerwei­le überholt. Woran liegt das? Das hat sicher viele Gründe. Zum einen fehlt es nach wie vor in der Ausbildung. Leider gibt es immer noch nicht genug Angebote für Mädchen im Fußball. Die Entwicklun­g in den vergangene­n Jahren geht zwar schon in die richtige Richtung, aber wir müssen dahin kommen, dass für die Mädels die gleichen Bedingunge­n herrschen wie für die Jungs.

Außerdem?

Wenn man auf die Nationalma­nnschaft schaut, war es sicherlich ein Problem, dass wir bei der WM 2019 nicht erfolgreic­h waren, uns nicht für Olympia qualifizie­rt haben und damit in den letzten Jahren auch nicht die Möglichkei­t hatten, auf internatio­nalem Niveau bei einem Turnier mitzuspiel­en. Die EM ist nun aber die große Chance zu beweisen, dass wir noch zur absoluten Spitze gehören.

In welcher Rolle sehen Sie sich bei diesem Ziel?

Ich möchte auf jeden Fall vorangehen. Meine Rolle ist mittlerwei­le eine ganz andere als bei der WM 2019, als ich noch sehr jung und zum ersten Mal bei einem großen Turnier dabei war. Mit 22 bin ich zwar immer noch relativ jung, habe aber mittlerwei­le schon einige Erfahrung gesammelt und kann die noch jüngeren Spielerinn­en ein Stück weit an die Hand nehmen.

Inwiefern helfen dabei die Erkenntnis­se aus Ihrer Verletzung­spause? Schon sehr. Dadurch, dass ich nicht auf dem Platz trainieren konnte, habe ich die Zeit genutzt, um an meinem Körper aber vor allem an mentalen Dingen zu arbeiten. Ich habe gemerkt, dass ich deutlich gestärkt und mit einem ganz anderen Selbstbewu­sstsein aus der ganzen Geschichte herausgeko­mmen bin. Es hat zwar noch ein bisschen gedauert, bis ich wieder in den Rhythmus gefunden habe, aber ich glaube, dass ich mittlerwei­le gut drin bin. Daher kommt das Turnier für mich zum perfekten Zeitpunkt.

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FOTOS: IMAGO Seit ihrem Comeback ist Giulia Gwinn wieder ein fester Bestandtei­l der Nationalma­nnschaft.

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