Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Familiennamen haben viel zu erzählen
Von Adler über Müller und Schmidt bis Zyriax – Mainzer Sprachwissenschaftler haben bereits 50 000 deutsche Nachnamen analysiert
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MAINZ (KNA) - Rita Heuser ist eine begeisterte Namensforscherin. Zusammen mit Historikern, Sprachwissenschaftlern und Computerexperten hat sich die Mainzer Germanistin eine gewaltige Aufgabe vorgenommen: die Herkunft, Bedeutung und Verbreitung von 200 000 Familiennamen in Deutschland zu erforschen.
Bereits zum Jahresende 2021 hatten Heuser und Co. eine wichtiges Etappenziel erreicht. Die ersten 50 000 Namen sind bearbeitet und unter www.namenforschung.net der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Schon jetzt verzeichnet die Internetseite 25 000 bis 30 000 Zugriffe pro Monat – auch aus dem Ausland. Bis 2035 wollen die Wissenschaftler das „Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands“abgeschlossen haben, bei dem die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, die Technische Universität Darmstadt und die Johannes-Gutenberg-Universität Mainz zusammenarbeiten.
„Kein Name ist langweilig“, blickt Heuser auf ihre Arbeit seit 2012 zurück. „Hinter jedem Namen verbirgt sich eine Geschichte.“Nachnamen erlauben einen Blick in die Vergangenheit und transportierten jede Menge Informationen über Kultur, Geschichte und Alltagsleben im Mittelalter, sagt die Germanistin. Vor allem fünf Familiennamenklassen kennen die Namensforscher. Müller, Schmidt, Schneider, Fischer … So beginnt die Rangliste der am häufigsten vorkommenden Familiennamen in Deutschland. Bis Rang 14 handelt es sich ausschließlich um Berufsbezeichnungen.
Auch Herkunftsnamen sind häufig. Wer beispielsweise Antwerpes oder Adenauer heißt, hatte Vorfahren in den entsprechenden Orten. Wer Beck oder Bach heißt, dessen Vorfahren lebten an Bächen, die Waldmanns oder Buschs wohnten nahe bei Wäldern.
Auf charakterliche Merkmale verweisen Familiennamen wie Sonnenschein oder Kühn; Namen wie Weiß und Witte gingen auf Haarfarbe oder Hautbeschaffenheit zurück. Jemand, der viel isst, wurde Schlemmer genannt. Viele Namen wurden auch aus Vornamen generiert: Marx kommt von Marcus, Lehnhart von Leonhardt. Viele wurden auch nach dem Vatersnamen gebildet: Bernd Jensen bedeutet Bernd, Sohn des Jens.
Diese Familiennamen entstanden erst im Verlauf des 12. Jahrhunderts. Mit dem Anwachsen der Städte reichten die Vornamen nicht mehr aus. Für Rechtsgeschäfte und Landverkäufe musste genau zwischen Hans und Hans oder Robert und Robert unterschieden werden.
Im 16. Jahrhundert war diese Entwicklung in Deutschland dann weitgehend abgeschlossen – bis auf die Zuwanderer und Flüchtlinge, die bis heute neue Familiennamen nach
Deutschland bringen: Franzosen (de Maiziere oder Lafontaine), Polen (Grabowski, Kuzorra und Szepan) oder Türken (Özdemir oder Shahin). Für Heuser war dabei besonders überraschend: Bereits auf Platz 692 der häufigsten Familiennamen findet sich der vietnamesische Nachname Nguyen – ein Zeichen dafür, wie viele Menschen mit vietnamesischen Wurzeln seit den 1970er-Jahren in Deutschland heimisch geworden sind.
Seine Datenbasis verdankt das Projekt der Deutschen Telekom und den Telefonbüchern des Jahres 2005. Damals hatten noch rund 92 Prozent aller privaten Haushalte einen Festnetzanschluss. Die Forscher informieren im Internet nicht nur über die Häufigkeit des Vorkommens, sondern errechnen auch eine Rangfolge der häufigsten Namen und analysieren mögliche Bedeutungen. Denn viele Herleitungen sind keineswegs eindeutig: Wer beispielsweise
Adler heißt, könnte von einem Vorfahren abstammen, der durch Eigenschaften wie Scharfsinnigkeit oder eine Hakennase an den Raubvogel erinnerte. Der Namensgeber könnte aber auch in einem Haus Zum Adler gewohnt haben, an dessen Front ein Adler als Symboltier des Evangelisten Johannes prangte.
Auch die regionale Verteilung und Wanderungsbewegungen kann man aus den Ergebnissen der Wissenschaftler ableiten. Manche Karte zeigt, dass sich Familien seit dem Mittelalter kaum von ihrem Ursprungsort wegbewegt haben – ein Radius von 100 Kilometern war lange Zeit üblich.
Manche Namen dokumentieren aber auch dramatische Wanderungsbewegungen. Der Name Scholz (wie Schulz oder Schulte) etwa war über Jahrhunderte vor allem in Schlesien heimisch. Mit der Industrialisierung, die im 19. Jahrhundert bereits begann, und der Flucht vor der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 verbreitete er sich in vielen Teilen Deutschlands.
Das digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands im Internet: www.namenforschung.net