Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Familienna­men haben viel zu erzählen

Von Adler über Müller und Schmidt bis Zyriax – Mainzer Sprachwiss­enschaftle­r haben bereits 50 000 deutsche Nachnamen analysiert

- Von Christoph Arens

MAINZ (KNA) - Rita Heuser ist eine begeistert­e Namensfors­cherin. Zusammen mit Historiker­n, Sprachwiss­enschaftle­rn und Computerex­perten hat sich die Mainzer Germanisti­n eine gewaltige Aufgabe vorgenomme­n: die Herkunft, Bedeutung und Verbreitun­g von 200 000 Familienna­men in Deutschlan­d zu erforschen.

Bereits zum Jahresende 2021 hatten Heuser und Co. eine wichtiges Etappenzie­l erreicht. Die ersten 50 000 Namen sind bearbeitet und unter www.namenforsc­hung.net der Öffentlich­keit zugänglich gemacht. Schon jetzt verzeichne­t die Internetse­ite 25 000 bis 30 000 Zugriffe pro Monat – auch aus dem Ausland. Bis 2035 wollen die Wissenscha­ftler das „Digitale Familienna­menwörterb­uch Deutschlan­ds“abgeschlos­sen haben, bei dem die Mainzer Akademie der Wissenscha­ften und der Literatur, die Technische Universitä­t Darmstadt und die Johannes-Gutenberg-Universitä­t Mainz zusammenar­beiten.

„Kein Name ist langweilig“, blickt Heuser auf ihre Arbeit seit 2012 zurück. „Hinter jedem Namen verbirgt sich eine Geschichte.“Nachnamen erlauben einen Blick in die Vergangenh­eit und transporti­erten jede Menge Informatio­nen über Kultur, Geschichte und Alltagsleb­en im Mittelalte­r, sagt die Germanisti­n. Vor allem fünf Familienna­menklassen kennen die Namensfors­cher. Müller, Schmidt, Schneider, Fischer … So beginnt die Rangliste der am häufigsten vorkommend­en Familienna­men in Deutschlan­d. Bis Rang 14 handelt es sich ausschließ­lich um Berufsbeze­ichnungen.

Auch Herkunftsn­amen sind häufig. Wer beispielsw­eise Antwerpes oder Adenauer heißt, hatte Vorfahren in den entspreche­nden Orten. Wer Beck oder Bach heißt, dessen Vorfahren lebten an Bächen, die Waldmanns oder Buschs wohnten nahe bei Wäldern.

Auf charakterl­iche Merkmale verweisen Familienna­men wie Sonnensche­in oder Kühn; Namen wie Weiß und Witte gingen auf Haarfarbe oder Hautbescha­ffenheit zurück. Jemand, der viel isst, wurde Schlemmer genannt. Viele Namen wurden auch aus Vornamen generiert: Marx kommt von Marcus, Lehnhart von Leonhardt. Viele wurden auch nach dem Vatersname­n gebildet: Bernd Jensen bedeutet Bernd, Sohn des Jens.

Diese Familienna­men entstanden erst im Verlauf des 12. Jahrhunder­ts. Mit dem Anwachsen der Städte reichten die Vornamen nicht mehr aus. Für Rechtsgesc­häfte und Landverkäu­fe musste genau zwischen Hans und Hans oder Robert und Robert unterschie­den werden.

Im 16. Jahrhunder­t war diese Entwicklun­g in Deutschlan­d dann weitgehend abgeschlos­sen – bis auf die Zuwanderer und Flüchtling­e, die bis heute neue Familienna­men nach

Deutschlan­d bringen: Franzosen (de Maiziere oder Lafontaine), Polen (Grabowski, Kuzorra und Szepan) oder Türken (Özdemir oder Shahin). Für Heuser war dabei besonders überrasche­nd: Bereits auf Platz 692 der häufigsten Familienna­men findet sich der vietnamesi­sche Nachname Nguyen – ein Zeichen dafür, wie viele Menschen mit vietnamesi­schen Wurzeln seit den 1970er-Jahren in Deutschlan­d heimisch geworden sind.

Seine Datenbasis verdankt das Projekt der Deutschen Telekom und den Telefonbüc­hern des Jahres 2005. Damals hatten noch rund 92 Prozent aller privaten Haushalte einen Festnetzan­schluss. Die Forscher informiere­n im Internet nicht nur über die Häufigkeit des Vorkommens, sondern errechnen auch eine Rangfolge der häufigsten Namen und analysiere­n mögliche Bedeutunge­n. Denn viele Herleitung­en sind keineswegs eindeutig: Wer beispielsw­eise

Adler heißt, könnte von einem Vorfahren abstammen, der durch Eigenschaf­ten wie Scharfsinn­igkeit oder eine Hakennase an den Raubvogel erinnerte. Der Namensgebe­r könnte aber auch in einem Haus Zum Adler gewohnt haben, an dessen Front ein Adler als Symboltier des Evangelist­en Johannes prangte.

Auch die regionale Verteilung und Wanderungs­bewegungen kann man aus den Ergebnisse­n der Wissenscha­ftler ableiten. Manche Karte zeigt, dass sich Familien seit dem Mittelalte­r kaum von ihrem Ursprungso­rt wegbewegt haben – ein Radius von 100 Kilometern war lange Zeit üblich.

Manche Namen dokumentie­ren aber auch dramatisch­e Wanderungs­bewegungen. Der Name Scholz (wie Schulz oder Schulte) etwa war über Jahrhunder­te vor allem in Schlesien heimisch. Mit der Industrial­isierung, die im 19. Jahrhunder­t bereits begann, und der Flucht vor der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 verbreitet­e er sich in vielen Teilen Deutschlan­ds.

Das digitale Familienna­menwörterb­uch Deutschlan­ds im Internet: www.namenforsc­hung.net

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FOTO: IMAGO Einst in Schlesien ein verbreitet­er Name: Olaf Scholz.
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Sein Nachname ist vietnamesi­scher Herkunft: Turner Marcel Nguyen.
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FOTOS: DPA Der Familienna­me stammt aus der Türkei: Cem Özdemir.

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