Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Scholz verspricht Ukraine EU-Beitrittsstatus
Kanzler macht bei Besuch in Kiew keine neuen Zusagen für Waffenlieferungen
KIEW (AFP/dpa) - Gemeinsam mit den Staats- und Regierungschefs aus Frankreich, Italien und Rumänien hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei seinem Besuch in Kiew dafür ausgesprochen, der Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten zuzuerkennen. „Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine. Das gilt auch für die Republik Moldau“, sagte Scholz am Donnerstag. Neue Waffenlieferungen allerdings versprach der Kanzler in Kiew nicht und verwies auf bereits gemachte Zusagen.
Scholz war vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj empfangen worden. Dieser hatte Scholz schon vor Wochen eingeladen. Zuerst standen aber Verstimmungen wegen der kurzfristigen Absage einer Reise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von ukrainischer Seite im Weg.
Am Donnerstag sagte Selenskyj: „Unser Land ist bereit, alles Nötige zu tun, um volles EU-Mitglied zu werden.“Der Kandidatenstatus für einen EU-Beitritt sei eine „historische Chance“, um die europäische
Stabilität zu stärken. Scholz betonte, für einen Beitritt gälten „klare Kriterien“. Dies seien insbesondere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der Kanzler war bisher zurückhaltend bei der Frage nach dem Kandidatenstatus für die Ukraine.
Am heutigen Freitag veröffentlicht die Europäische Kommission ihre Empfehlung zur Ukraine. Darüber abgestimmt werden könnte beim EU-Gipfel in der kommenden Woche. Der Kandidatenstatus ist Voraussetzung für Beitrittsverhandlungen. Diese dauern in der Regel Jahre.
Um die Ukraine und Moldau zu EUKandidaten zu machen, müssen alle Mitgliedstaaten dem zustimmen, Länder wie die Niederlande oder Portugal waren bisher skeptisch. Die Ukraine hatte nach Beginn des russischen Angriffskrieges einen Antrag auf EU-Beitritt gestellt.
Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter zeigte sich am Abend enttäuscht von der ScholzReise. Der Aalener kritisierte unter anderem, dass Scholz beim Thema Waffenlieferungen unkonkret geblieben sei.
BERLIN - Morgens halb zehn in der Ukraine beginnt für Olaf Scholz ein Besuch, zu dem er schon lange gedrängt wird. Der Kanzler entsteigt am Bahnhof der Hauptstadt Kiew dem Nachtzug, der ihn zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschef Mario Draghi vom polnischen Grenzort Przemysl durch das von Russland angegriffene Land gefahren hat. Der Luftraum ist gesperrt, das Risiko eines Beschusses zu groß, aber das Bundeskriminalamt sieht auch die stundenlange Zugfahrt skeptisch. Fotos zeigen den Kanzler, wie er nachts in Begleitung mehrerer Sicherheitsbeamter an Gleisen entlangschreitet. Wie gefährlich die Reise ist, erweist sich auch, als kurz nach der Ankunft in Kiew Luftalarm ausgelöst wird.
Die Erwartungen an die Visite am 113. Kriegstag hätten kaum größer sein können. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte seinen Gast in einem ZDF-Interview gemahnt, dass die Bundesrepublik keinen „Spagat“zwischen Kiew und Moskau versuchen dürfe: „Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt – er und seine Regierung müssen sich entscheiden.“Auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag hoffte angesichts der jüngsten russischen Geländegewinne auf Ankündigungen zu weiterer Militärhilfe und zur europäischen Perspektive des Landes. „Der EU-Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine wäre eine unmissverständliche Botschaft in Richtung Moskau – auch wenn der Prozess noch Jahre dauern wird“, sagte Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP). „In der jetzigen Lage braucht das Land aber vor allem Waffen, da muss der Kanzler im wahrsten Sinne des Wortes liefern.“Panzer von Typ Marder und Leopard 1 stünden bereit.
Mitte Mai hatte Scholz selbst die Messlatte hochgelegt. „Ich werde mich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen“, sagte der Kanzler damals zu Kiews ersten Staatsgästen: „Wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge.“
In Bezug auf Panzerlieferungen der Industrie gibt es freilich weiter Bedenken, dass Modelle westlicher Bauart der russischen Seite in die Hände fallen oder als direkte Kriegsbeteiligung der Nato angesehen werden könnten. Scholz verweist deshalb auf die kurz bevorstehende Übergabe der Panzerhaubitze 2000, eines hochmodernen Geschützes, das von weit hinter der Frontlinie bis zu 40 Kilometer feuern kann. Sieben Stück aus Deutschland und fünf aus den Niederlanden sollen in den nächsten Tagen in der Ukraine eintreffen. Im Lauf des Sommers, nach der Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland, sollen drei Mehrfachraketenwerfer des Modells M270 der Bundeswehr geliefert werden. Diese Vereinbarung wurde am Mittwochabend mit den USA und Großbritannien getroffen.
Sichtlich bewegt spricht Scholz von der „Brutalität des russischen Angriffskrieges“, als er durch die Häuserruinen im Kiewer Vorort Irpin vorbeischreitet: „Es ist eine ganze Stadt zerstört worden, in der überhaupt gar keine militärischen Infrastrukturen waren.“Ein Ukrainer, der den Kanzler begleitet, zeigt nach Berichten einer Nachrichtenagentur vor Ort auf ein Autowrack, in dem offenbar eine Mutter und ihre Kinder bei einem russischen Angriff zu Kriegsbeginn getötet wurden. Scholz legt wortlos seine Hand auf den Kotflügel. Von „Zeichen der Barbarei“spricht Macron. „Die Ukraine muss widerstehen und gewinnen“, sagt Frankreichs Präsident, der kürzlich noch betont hatte, man dürfe Russlands Staatschef Wladimir Putin nicht „demütigen“.
Anschließend geht es in den Präsidentenpalast zu Selenskyj, der um ein siebtes EU-Sanktionspaket gegen Russland bittet, inklusive Gas-Embargo. Aber das oder unmittelbar wirksame Waffenlieferungen, um den Vormarsch der russischen Streitkräfte im Donbass aufzuhalten, haben die Gäste, zu denen auch Rumäniens Präsident Klaus Ioannis gehört, nicht im Gepäck. Macron sagt sechs weitere Raketenwerfer zu – für die nähere Zukunft.
Auf der Pressekonferenz bezeichnet Scholz den „heldenhaften Abwehrkampf“des Landes und die „Tapferkeit“seiner Menschen als „bewundernswert“. Er erinnert an die finanzielle, humanitäre und militärische Hilfe, die die Bundesrepublik schon leiste, und kündigt eher allgemein Militärhilfe über das schon zugesagte Material hinaus an: „Wir werden das weiterhin tun, solange die Ukraine unsere Unterstützung benötigt.“ Auch Macron wird eher grundsätzlich: Man werde helfen, bis es wieder „eine freie und unabhängige Ukraine“gebe.
Die Neuigkeit des Tages ist daher die Zusage, dass Scholz sich beim bevorstehenden Europäischen Rat für den eher symbolischen EU-Kandidatenstatus einsetzen will: „Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine.“Dies gelte auch für deren Nachbarland, die Republik Moldau. Der Kanzler betont freilich auch die Bedenken der Bundesregierung, indem er an die eigene Reformbedürftigkeit der Gemeinschaft und an „klare Kriterien“erinnert, die vor dem tatsächlichen Beitritt erfüllt sein müssen.
„Die Ukraine soll leben“, sagt er am Ende seines PressekonferenzStatements – und schließt auf Ukrainisch: „Slawa Ukrajini“.