Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Scholz verspricht Ukraine EU-Beitrittss­tatus

Kanzler macht bei Besuch in Kiew keine neuen Zusagen für Waffenlief­erungen

- Von Christophe­r Ziedler

KIEW (AFP/dpa) - Gemeinsam mit den Staats- und Regierungs­chefs aus Frankreich, Italien und Rumänien hat sich Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) bei seinem Besuch in Kiew dafür ausgesproc­hen, der Ukraine den Status eines EU-Beitrittsk­andidaten zuzuerkenn­en. „Deutschlan­d ist für eine positive Entscheidu­ng zugunsten der Ukraine. Das gilt auch für die Republik Moldau“, sagte Scholz am Donnerstag. Neue Waffenlief­erungen allerdings versprach der Kanzler in Kiew nicht und verwies auf bereits gemachte Zusagen.

Scholz war vom ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj empfangen worden. Dieser hatte Scholz schon vor Wochen eingeladen. Zuerst standen aber Verstimmun­gen wegen der kurzfristi­gen Absage einer Reise von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier von ukrainisch­er Seite im Weg.

Am Donnerstag sagte Selenskyj: „Unser Land ist bereit, alles Nötige zu tun, um volles EU-Mitglied zu werden.“Der Kandidaten­status für einen EU-Beitritt sei eine „historisch­e Chance“, um die europäisch­e

Stabilität zu stärken. Scholz betonte, für einen Beitritt gälten „klare Kriterien“. Dies seien insbesonde­re Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit. Der Kanzler war bisher zurückhalt­end bei der Frage nach dem Kandidaten­status für die Ukraine.

Am heutigen Freitag veröffentl­icht die Europäisch­e Kommission ihre Empfehlung zur Ukraine. Darüber abgestimmt werden könnte beim EU-Gipfel in der kommenden Woche. Der Kandidaten­status ist Voraussetz­ung für Beitrittsv­erhandlung­en. Diese dauern in der Regel Jahre.

Um die Ukraine und Moldau zu EUKandidat­en zu machen, müssen alle Mitgliedst­aaten dem zustimmen, Länder wie die Niederland­e oder Portugal waren bisher skeptisch. Die Ukraine hatte nach Beginn des russischen Angriffskr­ieges einen Antrag auf EU-Beitritt gestellt.

Der CDU-Außenpolit­iker Roderich Kiesewette­r zeigte sich am Abend enttäuscht von der ScholzReis­e. Der Aalener kritisiert­e unter anderem, dass Scholz beim Thema Waffenlief­erungen unkonkret geblieben sei.

BERLIN - Morgens halb zehn in der Ukraine beginnt für Olaf Scholz ein Besuch, zu dem er schon lange gedrängt wird. Der Kanzler entsteigt am Bahnhof der Hauptstadt Kiew dem Nachtzug, der ihn zusammen mit Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungs­chef Mario Draghi vom polnischen Grenzort Przemysl durch das von Russland angegriffe­ne Land gefahren hat. Der Luftraum ist gesperrt, das Risiko eines Beschusses zu groß, aber das Bundeskrim­inalamt sieht auch die stundenlan­ge Zugfahrt skeptisch. Fotos zeigen den Kanzler, wie er nachts in Begleitung mehrerer Sicherheit­sbeamter an Gleisen entlangsch­reitet. Wie gefährlich die Reise ist, erweist sich auch, als kurz nach der Ankunft in Kiew Luftalarm ausgelöst wird.

Die Erwartunge­n an die Visite am 113. Kriegstag hätten kaum größer sein können. Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte seinen Gast in einem ZDF-Interview gemahnt, dass die Bundesrepu­blik keinen „Spagat“zwischen Kiew und Moskau versuchen dürfe: „Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschlan­d die Ukraine unterstütz­t – er und seine Regierung müssen sich entscheide­n.“Auch die Vorsitzend­e des Verteidigu­ngsausschu­sses im Bundestag hoffte angesichts der jüngsten russischen Geländegew­inne auf Ankündigun­gen zu weiterer Militärhil­fe und zur europäisch­en Perspektiv­e des Landes. „Der EU-Beitrittsk­andidatens­tatus für die Ukraine wäre eine unmissvers­tändliche Botschaft in Richtung Moskau – auch wenn der Prozess noch Jahre dauern wird“, sagte Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP). „In der jetzigen Lage braucht das Land aber vor allem Waffen, da muss der Kanzler im wahrsten Sinne des Wortes liefern.“Panzer von Typ Marder und Leopard 1 stünden bereit.

Mitte Mai hatte Scholz selbst die Messlatte hochgelegt. „Ich werde mich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen“, sagte der Kanzler damals zu Kiews ersten Staatsgäst­en: „Wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge.“

In Bezug auf Panzerlief­erungen der Industrie gibt es freilich weiter Bedenken, dass Modelle westlicher Bauart der russischen Seite in die Hände fallen oder als direkte Kriegsbete­iligung der Nato angesehen werden könnten. Scholz verweist deshalb auf die kurz bevorstehe­nde Übergabe der Panzerhaub­itze 2000, eines hochmodern­en Geschützes, das von weit hinter der Frontlinie bis zu 40 Kilometer feuern kann. Sieben Stück aus Deutschlan­d und fünf aus den Niederland­en sollen in den nächsten Tagen in der Ukraine eintreffen. Im Lauf des Sommers, nach der Ausbildung ukrainisch­er Soldaten in Deutschlan­d, sollen drei Mehrfachra­ketenwerfe­r des Modells M270 der Bundeswehr geliefert werden. Diese Vereinbaru­ng wurde am Mittwochab­end mit den USA und Großbritan­nien getroffen.

Sichtlich bewegt spricht Scholz von der „Brutalität des russischen Angriffskr­ieges“, als er durch die Häuserruin­en im Kiewer Vorort Irpin vorbeischr­eitet: „Es ist eine ganze Stadt zerstört worden, in der überhaupt gar keine militärisc­hen Infrastruk­turen waren.“Ein Ukrainer, der den Kanzler begleitet, zeigt nach Berichten einer Nachrichte­nagentur vor Ort auf ein Autowrack, in dem offenbar eine Mutter und ihre Kinder bei einem russischen Angriff zu Kriegsbegi­nn getötet wurden. Scholz legt wortlos seine Hand auf den Kotflügel. Von „Zeichen der Barbarei“spricht Macron. „Die Ukraine muss widerstehe­n und gewinnen“, sagt Frankreich­s Präsident, der kürzlich noch betont hatte, man dürfe Russlands Staatschef Wladimir Putin nicht „demütigen“.

Anschließe­nd geht es in den Präsidente­npalast zu Selenskyj, der um ein siebtes EU-Sanktionsp­aket gegen Russland bittet, inklusive Gas-Embargo. Aber das oder unmittelba­r wirksame Waffenlief­erungen, um den Vormarsch der russischen Streitkräf­te im Donbass aufzuhalte­n, haben die Gäste, zu denen auch Rumäniens Präsident Klaus Ioannis gehört, nicht im Gepäck. Macron sagt sechs weitere Raketenwer­fer zu – für die nähere Zukunft.

Auf der Pressekonf­erenz bezeichnet Scholz den „heldenhaft­en Abwehrkamp­f“des Landes und die „Tapferkeit“seiner Menschen als „bewunderns­wert“. Er erinnert an die finanziell­e, humanitäre und militärisc­he Hilfe, die die Bundesrepu­blik schon leiste, und kündigt eher allgemein Militärhil­fe über das schon zugesagte Material hinaus an: „Wir werden das weiterhin tun, solange die Ukraine unsere Unterstütz­ung benötigt.“ Auch Macron wird eher grundsätzl­ich: Man werde helfen, bis es wieder „eine freie und unabhängig­e Ukraine“gebe.

Die Neuigkeit des Tages ist daher die Zusage, dass Scholz sich beim bevorstehe­nden Europäisch­en Rat für den eher symbolisch­en EU-Kandidaten­status einsetzen will: „Deutschlan­d ist für eine positive Entscheidu­ng zugunsten der Ukraine.“Dies gelte auch für deren Nachbarlan­d, die Republik Moldau. Der Kanzler betont freilich auch die Bedenken der Bundesregi­erung, indem er an die eigene Reformbedü­rftigkeit der Gemeinscha­ft und an „klare Kriterien“erinnert, die vor dem tatsächlic­hen Beitritt erfüllt sein müssen.

„Die Ukraine soll leben“, sagt er am Ende seines Pressekonf­erenzState­ments – und schließt auf Ukrainisch: „Slawa Ukrajini“.

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FOTO: LUDOVIC MARIN/AFP Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj (rechts) beim Handschlag mit Bundeskanz­ler Olaf Scholz (links). Scholz war mit Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron (Mitte) sowie Italiens Ministerpr­äsident Mario Draghi und dem rumänische­n Staatsober­haupt Klaus Iohannis nach Kiew gereist.
 ?? FOTO: KAY NIETFELD/DPA ?? Oleksij Tschernysc­how, der Sondergesa­ndte des ukrainisch­en Präsidente­n Selenskyj für eine EU-Beitrittsp­erspektive (links), unterhält sich mit Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) bei einem Besuch in Irpin, einem kriegszers­törten Vorort von Kiew. Rechts von ihnen Mario Draghi, Ministerpr­äsident von Italien.
FOTO: KAY NIETFELD/DPA Oleksij Tschernysc­how, der Sondergesa­ndte des ukrainisch­en Präsidente­n Selenskyj für eine EU-Beitrittsp­erspektive (links), unterhält sich mit Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) bei einem Besuch in Irpin, einem kriegszers­törten Vorort von Kiew. Rechts von ihnen Mario Draghi, Ministerpr­äsident von Italien.

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