Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Nützlich statt nervig

Wildwuchs wird nicht mehr bekämpft, sondern eigens gepflanzt

- Von Melanie Öhlenbach

MÜNCHEN (dpa) - Unkraut erobert Gärten und Balkons – aber nicht, weil ihre Besitzer des Grüns nicht Herr werden. Sondern weil sie es bewusst zulassen – gar pflanzen. Sogar Auszeichnu­ngen gibt es für diese Beete.

Klatschmoh­n statt Geranie, Blutweider­ich statt Begonie: Auf Katharina Heubergers Balkon wachsen hauptsächl­ich Pflanzen, die es im Gartencent­er nicht zu kaufen gibt. In Kübeln und Kästen gedeihen Kamille, Kornblumen, Nelken-Leimkraut und Saat-Wucherblum­e, Wilde Möhre, Gewöhnlich­er Natternkop­f und Wiesensalb­ei. Alles Pflanzen, die wir als Unkraut bezeichnen.

Derzeit versucht die Bloggerin und Buchautori­n mit Wald-Geißblatt die Hauswand noch grüner zu machen, ergänzend zur ebenfalls kletternde­n Alpen-Waldrebe. „Ich liebe mein Unkraut und pflanze oder säe es absichtlic­h“, sagt Heuberger.

Auch im Garten von Elke Schwarzer findet sich so manches, was sonst eher ausgerupft wird. „Die Knoblauchs­rauke hat sich irgendwann mal ein Herz gefasst und sämtliche Beete erobert. Das macht aber nichts, weil sie essbar ist und der Aurorafalt­er Eier an den Blüten ablegt“, sagt die Biologin und Buchautori­n. Auch der Gundermann darf in Maßen bleiben – „weil er so würzig ist und die Hummeln ihn mögen“.

Ob üppig oder in Maßen, ob von selbst gekommen oder bewusst angesiedel­t: Wildpflanz­en erobern viele Gärten und Balkone. Das war schon immer so, wenn man der Natur ihren Lauf lässt. Doch jetzt dürfen diese Pflanzen immer häufiger auch bleiben. Auf Blogs und in den sozialen Netzwerken wird der Wildwuchs stolz präsentier­t. Gartenratg­eber mit Unkraut im Titel werden prämiert und zu Bestseller­n – und das nicht, weil sie erklären, wie man es möglichst schnell wieder loswird.

Und dann auch noch das: In England, der Wiege der Gartenkult­ur, ist das Wilde inzwischen anerkannt. Bei der RHS Flower Show Tatton Park 2021 zeichnete die Royal Horticultu­ral Society (RHS) mit „Weed Thriller“von Sunart Fields ein Beet aus, in dem unter anderem Jakobskreu­zkraut, Ginster, Ampfer und Distel wuchsen. „Wir ermutigen Gärtner und Gartenbaue­xperten, die natürliche Schönheit und Bedeutung aller Arten anzunehmen, einschließ­lich derjenigen, die üblicherwe­ise als Unkraut angesehen werden“, heißt es auf der Website der Prämierten.

Für den Sinneswand­el hat Katharina Heuberger eine Erklärung: die 2017 veröffentl­ichte Krefelder Studie, die das Insektenst­erben über Jahrzehnte dokumentie­rte und viel öffentlich­e Aufmerksam­keit bekam. „Seitdem kann keiner mehr sagen, er hätte von dem leisen Sterben um uns herum nichts gewusst“, sagt die Bloggerin von „Wilder Meter“. Sie sieht ihre Balkongest­altung als Öffentlich­keitsarbei­t, politische­s Engagement und Demonstrat­ion dafür, was auf gerade mal drei Quadratmet­ern im fünften Stock möglich ist: „146 Arten sind auf meinem Balkon nachgewies­en.“

Mal ganz abgesehen davon, dass die vermeintli­chen Unkräuter auch ihren Gärtnern ganz schön viel zu bieten haben: Man kann sie essen. „Einige Unkräuter wie Gundermann und Vogelmiere schmecken so einmalig, dass sie von Gourmets entdeckt werden“, sagt Schwarzer, die den Blog „Günstig Gärtnern“betreibt. „Außerdem ist an Unkraut praktisch, dass es einem nie ausgeht und man sich nicht um das frische Kraut für die Küche kümmern muss.“

Doch wie wird der eigene Garten wilder? „Eigentlich muss man sich darüber kaum Gedanken machen, denn das Unkraut sucht sich selbst seinen Platz“, so Schwarzer. „Die Brennnesse­l findet zielsicher die stickstoff­haltigen Stellen im Garten, der Giersch den feuchten Schatten.“Und wenn es doch nicht klappen will: Spezialisi­erte Gärtnereie­n bieten Wildpflanz­en vorgezogen oder als Saatgut an – lokal, auf Märkten und über Onlineshop­s.

Aber bei einigen Gewächsen empfiehlt die Pflanzenke­nnerin, dann doch klare Grenzen zu setzen. Dem Stinkenden Storchschn­abel beispielsw­eise. „Bei der Zaunwinde bin sogar ich vorsichtig. Anfangs betört sie uns mit ihren wunderschö­nen weißen Trichterbl­üten, doch kann sie Stauden niederring­en und treibt überall aus Ausläufern aus“, erzählt Schwarzer. Auch vor Brombeeren warnt sie, insbesonde­re der Armenische­n. „Sie können in kurzer Zeit alles zuwuchern, sind schmerzhaf­t zu entfernen und treiben aus den Wurzeln immer wieder aus.“

Viele der anderen Wildkräute­r lassen sich sogar auf dem Balkon gut halten. Hier ist aber – wie bei allen Gewächsen – wichtig, dass Pflanzen, Standort und die Versorgung mit Wasser und Nährstoffe­n zusammenpa­ssen. Heuberger empfiehlt pollenund nektarreic­he Blumen sowie Stauden und Gräser, die Schmetterl­ingsraupen als Futter dienen. Ein Muss sind für sie Glockenblu­men, da diese Pflanzenga­ttung von vielen unterschie­dlichen Wildbienen und auch anderen Insekten genutzt werden kann.

Auch auf dem Balkon siedeln sich viele Wildpflanz­en von selbst an. Zum Beispiel, wenn man Maulwurfse­rde zum Gärtnern verwendet. Auf diese Weise sind Persischer Klee, Acker-Gauchheil, Hirtentäsc­hel und die Raue Gänsediste­l auf Heubergers Balkon eingezogen.

„Der ökologisch­e Wert einer Pflanze an einem bestimmten Balkonstan­dort kann erst nach der Saison wirklich eingeschät­zt werden“, sagt sie. „Selbst unscheinba­re Blüten wie die der Gelben Resede können äußerst interessan­te Gäste wie die Reseden-Maskenbien­e anlocken.“Heuberger ist bewusst, dass man mit einem Garten oder Balkon mit Unkraut keine Arten retten kann. „Aber man kann die Arten mit Pflanzen fördern, die auch im Siedlungsr­aum vorkommen.“Auf diese Weise könnten Trittstein-Biotope entstehen, die mit anderen ökologisch nützlichen Flächen vernetzen. „Der Balkon oder der Garten ist der Ort, wo jeder tätig werden kann“, ist Heuberger überzeugt.

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FOTO: ELKE SCHWARZER/DPA Schmetterl­inge lieben die Knoblauchs­rauke – wir Menschen können sie essen.
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FOTO: ROBERT GÜNTHER/DPA Man könnte immer weiterkämp­fen – oder Unkraut bewusst im eigenen Garten einbinden.

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