Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
SPD-Chef sieht Deutschland als „Führungsmacht“
General Markus Laubenthal über die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr und die Defizite bei der Ausrüstung
BERLIN (dpa) - SPD-Chef Lars Klingbeil hat angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine eine Neuausrichtung der deutschen Außenund Sicherheitspolitik gefordert. Deutschland müsse jahrzehntelange Zurückhaltung aufgeben und auch militärisch stark werden, sagte Klingbeil am Montag in Berlin. Europa müsse im Wettstreit internationaler Beziehungen gleichzeitig „das attraktivste Zentrum der Welt“werden. Hier komme Deutschland eine Schlüsselrolle zu, betonte Klingbeil. Deutschland müsse dabei „den Anspruch einer Führungsmacht haben“.
BERLIN - Die russische Strategie im Osten der Ukraine erinnert ihn an den Kalten Krieg: General Markus Laubenthal (Foto: Imago), stellvertretender Generalinspekteur der Bundeswehr, über eine neue Schlacht um Kiew, die Rolle von Selenskyj und die Schwächen der Bundeswehr.
Der brutale Krieg im Osten der Ukraine dominiert die Schlagzeilen. Wie bewerten Sie die Lage militärisch?
Eines möchte ich vorneweg stellen: Mich bewegt das Leid, was Putins Krieg über die Ukraine gebracht hat, tief. Wir sehen, wie Russland seine Angriffe im Osten der Ukraine ausweitet. Russland hat seine Truppen nahezu vollständig aus den übrigen Teilen des Landes abgezogen, nachdem die schnelle Eroberung Kiews gescheitert war.
Sind Sie überrascht von der Verteidigungsfähigkeit der Ukrainer? Die Ukraine hat sich seit der Annexion der Krim 2014 auf einen russischen Angriff vorbereitet. Sie ist in der Lage, mit cleveren taktischen Schachzügen den Russen Paroli zu bieten – unterstützt durch Waffenlieferungen der internationalen Gemeinschaft.
Wie lange werden die Ukrainer im Osten durchhalten?
Sie verteidigen geschickt, vermeiden die direkte Duellsituation und schonen damit Kräfte und Material. Dies kann sich noch lange hinziehen.
Monate? Jahre?
Prognosen sind schwierig. Der trockene Sommer bietet beiden Seiten günstige Manöververhältnisse. Das wird sich ab Herbst wieder ändern. Entscheidend für die Ukraine ist die Unterstützung mit Ausrüstung und Hilfsgütern. Ende Juni sind die deutsch-niederländischen Panzerhaubitzen 2000 einsatzbereit. Es sollen Flugabwehrpanzer Gepard folgen sowie die Mehrfachraketenwerfer der USA, Großbritanniens und unsere. Diese Fähigkeiten werden die Ukraine signifikant stärken.
Wird es noch in diesem Jahr eine erneute Schlacht um Kiew geben? Dazu müsste Putin seine Truppen wieder zeitaufwendig umgruppieren – und das im Herbst oder Winter. Ich gehe nicht davon aus, dass er dieses Risiko eingeht. Dem gegenüber steht Präsident Selenskyj. Er hält die Ukraine zusammen, Bevölkerung und Militär vertrauen ihm, er aktiviert unentwegt die Geberländer. Putins Fokus richtet sich daher auf die Ost-Ukraine – auch, um überhaupt etwas vorweisen zu können.
Der Krieg hat inzwischen eine beinahe mittelalterliche Anmutung: Belagerung von Städten und permanenter Beschuss.
Nach den verzettelten Angriffen zu Beginn des Krieges sucht Russland nun die Überlegenheit im Kräfteverhältnis. Wir beobachten einen Krieg, auf den wir uns früher in den 1980erJahren in Deutschland vorbereitet hatten, sehr linear und berechenbar.
Ist das ein Zeichen von russischer Schwäche?
Der Ukraine ist es gelungen, die russischen Pläne zu durchkreuzen. Putin musste seine Ziele revidieren. Wie erwartet, konzentriert er jetzt seinen Angriff auf den Osten, um das geraubte ukrainische Territorium zu behaupten.
Es ist schon sehr befremdlich, auf diese Weise über reale Kriegstaktik zu fachsimpeln.
Stimmt! Während des Kalten Krieges konnten wir die Eskalation gottlob verhindern. Deutschland war bis 1989 eines der militarisiertesten Länder der Welt. Das Nato-Konzept der
Abschreckung hat funktioniert, sowohl nuklear als auch konventionell.
Ist die vermeintliche Friedensdividende also der Grund dafür, dass der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist?
Das würde ich so nicht sagen. Aber die internationale Gemeinschaft hat Putin zu lange gewähren lassen.
Wer trägt die Verantwortung dafür, dass Deutschland der Ukraine nicht viel aus eigenen Beständen anbieten kann?
Der Auftrag der Bundeswehr der vergangenen 20 Jahre waren die Auslandseinsätze. Unsere Strukturen waren darauf ausgerichtet. Der Sparkurs hat sie zudem ausgehöhlt. 2014 war ein Weckruf, seitdem füllen wir Lücken wieder auf und modernisieren die Truppe. Zugleich fordern uns die Nato-Verpflichtungen weiterhin.
Lange hieß es, die Bundeswehr könne nichts mehr abgeben. Unter steigendem Druck kündigt der Kanzler dann plötzlich Mehrfachraketenwerfer an. Also geht doch noch was.
Es wurde nicht gesagt, dass wir nichts mehr haben. Man muss aber die Folgen für unsere Verteidigungsfähigkeit bedenken. Eine verlorene Fähigkeit bekommt man nicht so schnell zurück. Mit der letzten Reform wurde auf die Flugabwehr weitgehend verzichtet, diese Lücke hat Russland mit neuen Angriffswaffen genutzt. Nun ist es eine unserer dringlichsten Aufgaben, diese Lücke zu schließen. Es ist also keine leichtfertige Entscheidung. Ich kann Ihnen aber versichern, wir prüfen laufend, wie wir der Ukraine noch helfen können.
Ist schnelle Hilfe für die Ukraine derzeit nicht wichtiger als NatoVerpflichtungen einzuhalten?
Das muss man weiterdenken. Welches Land ist das nächste? Die Balten sagen sehr deutlich, wer das ist. Abschreckung funktioniert nur, wenn sie glaubwürdig ist. Das heißt konkret, Putin muss wissen, dass er sich an einer Konfrontation mit der Nato die Zähne ausbeißt.
Die Ukraine fragt vor allem nach deutschen Panzern – haben die einen besonders guten Ruf?
Darauf lege ich großen Wert, schließlich bin ich Panzeroffizier! Der Leopard ist klasse – bedarf aber der bedrohungsgerechten Anpassung.
Aber genau den Leopard kriegen die Ukrainer ja nicht.
Zurzeit haben wir nur Teile der Panzer-Flotte zur Verfügung. Und es geht um schnell einsetzbares Gerät. Daher waren Panzerabwehrwaffen und bekannte sowjetische Fahrzeuge die erste Wahl. Nun folgt westliches Gerät. Damit ist aber auch ein Mehraufwand bei Ausbildung und Logistik verbunden. Wir liefern jetzt hoch präzise Artilleriesysteme, die weit hinter die Frontlinien reichen.
Deutschland bekommt die größte konventionelle Armee im europäischen Nato-Verbund – sagt der Kanzler. Was meint er damit?
Ich rechne damit, dass die Truppe ab 2025 signifikante Verbesserungen spürt. Wir werden dann zu Luft, Land, See und im Cyber-Raum eine sehr schlagkräftige Bundeswehr erleben, die keinen Vergleich scheuen muss!
Wann wird diese neue Bundeswehr für alle sichtbar sein?
Bis 2025 haben wir der Nato eine vollausgestattete Heeresdivision zugesagt. Dazu muss aber auch die Industrie ihre Zusagen einhalten.
Reichen – auch angesichts der Inflation – die 100 Milliarden Euro des Sondervermögens?
Aus heutiger Sicht: Ja! Aber gepaart mit einem Verteidigungshaushalt, der sich klar am Zwei-Prozent-Ziel ausrichtet. Eine moderne, vollausgestattete Bundeswehr verursacht höhere Kosten bei steigenden Preisen.