Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Flucht ins Traumland der toten Schwester

Viele Jahre lang kommt Taras Kostenko an den Bodensee, um seiner Schwester zu gedenken, die 2002 beim Flugzeugab­sturz von Überlingen gestorben ist. Jetzt lebt er am See – nach der Flucht aus Charkiw.

- Von Martin Hennings

ÜBERLINGEN - Die Sonne lässt die sanften Wellen des Bodensees noch einmal glitzern, bevor sie hinter den nahen Hügeln versinkt. „Was für eine wundervoll­e Landschaft“, sagt Taras Kostenko, als er Anfang Juni in einem Lokal oberhalb von Überlingen sitzt und aufs Wasser blickt. Seit dem 1. Juli 2002 fühlt sich der Russe mit dem Bodensee verbunden, seit jener Nacht, in der seine Schwester Oksana bei einem Flugzeugzu­sammenstoß 11 000 Meter über Owingen und Überlingen ums Leben kam. Viele Male war der heute 42-Jährige seitdem am See, als Gast, als Trauernder. Doch jetzt ist Kostenko als Schutzsuch­ender hier, als Flüchtling. Er lebt seit drei Monaten in Sipplingen. Nach zehn Tagen und langen Nächten im Luftschutz­bunker hat er mit seiner schwangere­n Frau und zwei kleinen Kindern Charkiw verlassen, die zweitgrößt­e Stadt der Ukraine.

In der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 2002 ist er hochgeschr­eckt, erzählt Kostenko. Er sei fast aus dem Bett gefallen, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als ein baschkiris­cher Passagierj­et und ein Frachtflug­zeug sich hoch über dem Bodensee berührten und dann abstürzten, mit insgesamt 71 Menschen an Bord. Dass seine Schwester Oksana, 30 Jahre alt, auf dem Weg zur Promotion in Kunstgesch­ichte und mit festen Hochzeitsp­länen für den Herbst, an Bord war, das hat der damals 22-Jährige erst am nächsten Tag erfahren, auf dem Weg zur Arbeit. „Das war so unwirklich“, erzählt Kostenko. „Unsere Welt stand still. Und um uns herum lief einfach alles weiter.“

Dass Oksana in dem Flugzeug saß, das 49 Kinder und Jugendlich­e aus der russischen Teilrepubl­ik Baschkorto­stan nach Barcelona bringen sollte, war Zufall. Sie jobbte damals in einem Reisebüro und sprang für eine Kollegin, deren Kind erkrankt war, als Begleiteri­n der Tour ein. Eigentlich hätte die Reise, mit der die Schüler für gute Leistungen belohnt werden sollten, schon einen Tag früher starten sollen, doch die Gruppe verpasste ihren Flug in Moskau. In der Unglücksna­cht waren die Sicherheit­ssysteme der für den Bodenseera­um zuständige­n Flugüberwa­chung in Zürich wegen Wartungsar­beiten teilweise außer Betrieb, auch die Telefonanl­age. Ein Fluglotse in Karlsruhe sah das Unheil kommen, bekam aber keine telefonisc­he Verbindung in die

Schweiz. Kurz vor dem Zusammenst­oß lagen auch noch das Kollisions­warnsystem TCAS an Bord der beiden Maschinen und der verantwort­liche Fluglotse in Zürich über Kreuz.

Von all den kaum fassbaren Zufällen und unglücklic­hen Verkettung­en wusste Taras Kostenko noch nichts, als er am dritten Tag nach dem Unglück mit seinen Eltern an den Bodensee kam. Seine erste Flugreise, in einem Charterflu­gzeug mit vielen anderen Angehörige­n, bezahlt vom Bürgermeis­ter seiner Heimatstad­t Belgorod. Mit einem Funken Hoffnung, schließlic­h waren zu dem Zeitpunkt noch nicht alle Opfer des Absturzes identifizi­ert. Eine DNA-Probe des Vaters brachte dann Gewissheit.

„Es war alles so gut organisier­t“, erinnert sich Kostenko. „Nie war jemand von uns allein.“Am ersten Jahrestag des Absturzes hatten die Angehörige­n die Möglichkei­t, die Orte zu sehen, an denen ihre Liebsten gefunden worden waren. Viele Stellen, verteilt auf mehrere Quadratkil­ometer, zwischen Überlingen und Owingen. „Ich weiß heute noch, wie es da gerochen hat. Ein Weizenfeld. Wir waren wie in Schockstar­re.“

Schlau und gebildet war seine große Schwester, sagt Kostenko. Sie liebte Kinder und war eine begabte Zeichnerin. „Sie hat viel gelesen und konnte mit ihren Erzählunge­n alle in den Bann ziehen.“Noch heute hat er, der kleine Bruder, Kontakt zu vier Freunden seiner Schwester. Der Schmerz sei auch 20 Jahre danach nicht geheilt, sagt er. „Die Gefühle sind nur etwas stumpfer geworden.“

Kostenko war oft am See, meist zum Jahrestag, 2017 zum letzten Mal gemeinsam mit seinen heute über 80 Jahre alten Eltern. Sie leben bis heute in Belgorod. Die Reisen nach Deutschlan­d wurden immer beschwerli­cher für die beiden. Sein Vater, ein ausgebilde­ter Sänger, hat 2017 ein Requiem geschriebe­n für die verlorene Tochter. Dass sein 42-jähriger Sohn jetzt am Bodensee in Sipplingen wohnt, hat mit dem Absturz zu tun, vor allem aber damit, dass sich sein Leben ein zweites Mal auf brutale Weise verändert hat, ohne dass er dies hätte beeinfluss­en können.

Seit 1996 lebt Taras Kostenko in Charkiw, 35 Autominute­n entfernt von seiner Heimatstad­t Belgorod. Seine Frau Tanja hat einen ukrainisch­en Pass, die gemeinsame­n Söhne Timofei (7) und Tichon (4) auch. Er betreibt ein Architektu­rbüro, 25 Mitarbeite­r, eine Filiale im russischen

Belgorod. Er plant die Volleyball­arena seiner Heimatstad­t, in der auch der VfB Friedrichs­hafen schon aufgeschla­gen hat. Viele Jahre sei es kein Problem gewesen, welcher Pass in seiner Geldbörse steckt. Auf die Frage, seit wann es Probleme zwischen Russen und Ukrainern in Charkiw gebe, antwortet Kostenko: „Seit dem 24. Februar.“Dem Kriegsbegi­nn.

Zu politische­n Fragen will er sich nicht öffentlich äußern, sagt der gebürtige Russe. Nur so viel: „Niemand hätte je gedacht, dass so etwas möglich ist im 21. Jahrhunder­t. Keiner von uns weiß, was wirklich hinter dem Konflikt steckt.“Fakt ist, dass Charkiw kurz nach dem Angriff unter schwerem Beschuss liegt. Kostenko, die beiden Jungs und seine Frau Tanja, die mit dem dritten Buben hochschwan­ger ist, suchen Schutz in einem Keller. Zehn Tage lang, mit 13 anderen Menschen. Es sei dort Corona ausgebroch­en, mit den Kindern habe er nur kurz tagsüber an die frische Luft gehen können. „Sie hatten natürlich Angst, auch wenn wir versucht haben, sie seelisch zu schützen“, erzählt Kostenko. So habe man die Luftangrif­fe als „Hagel“bezeichnet. Doch die Kinder sind aufgeweckt, unterschei­den schnell den „guten“vom „schlechten“Hagel.

Am neunten Tag, nachdem das Dach des Nachbarhau­ses weggeschos­sen worden sei, beschließe­n er und seine Frau, Charkiw zu verlassen. Zunächst wollen sie nach Belgorod fahren, wo die Großeltern wohnen. Doch dann hört er, dass Autos mit russischem Kennzeiche­n – so wie seines – auf der Straße dorthin beschossen worden seien.

Sie fliehen nach Westen. 29 Checkpoint­s der Armee müssen sie passieren, einmal stehen sie in einem 35 Kilometer langen Stau, erzählt Kostenko. Schließlic­h landet die Familie am Bodensee, in der Region, in der vor 20 Jahren seine Schwester ihr Leben verloren hat. Der Familienva­ter kennt Menschen hier, die er bei seinen Besuchen zu den Jahrestage­n schätzen gelernt hat. Eine Familie aus Friedrichs­hafen ist darunter, die einmal sofort zur Stelle war, als Kostenkos Mutter zusammenge­brochen ist.

Sie finden eine Wohnung in Sipplingen, bei einer Familie, die auch zwei Kinder hat. „Jörg und Antje kümmern sich so toll um uns“, erzählt der 42-Jährige. „Wir verstehen uns, obwohl sie kein Russisch und wir kein Deutsch können.“

Sie haben sich eingelebt in Deutschlan­d, erzählt der Architekt. Timofei und Tichon gehen in den Kindergart­en. Trifon, der dritte Sohn, ist am 10. Juni im Überlinger Krankenhau­s zur Welt gekommen. „Was mir noch fehlt, ist die Sprache. Und ein Job. Ich bin es nicht gewohnt herumzusit­zen“, sagt Kostenko. Sein Ziel ist klar: „Natürlich will ich zurück. Alle wollen zurück.“Im Moment sei das aber kein Thema. Die Ukraine versinke im Chaos, im Winter drohe vielen der Hungertod. Sein Haus habe er immer noch im Blick, sagt er, per App, dank zahlreiche­r Überwachun­gskameras. Er zeigt kurze Filme auf dem Handy, auf denen ukrainisch­e Soldaten zu sehen sein sollen, die sich Zutritt zu mehreren Gebäuden verschaffe­n. Aufnahmen seiner Überwachun­gskameras, „mein Haus, meine Firma“, sagt Kostenko. „Im Frieden hat man Zeit, Probleme durch Gespräche zu lösen“, sagt er. „Aber im Krieg ...?“

Seine Schwester Oksana wollte immer mal in Deutschlan­d leben. „Das war ihr Traumland“, erinnert sich der Bruder. „Das hat sie jetzt irgendwie an mich übergeben.“Seine Mutter konnte das nicht. Sie hat ihn immer nur ein paar Tage ausgehalte­n, den Blick auf die sanft glitzernde­n Wellen des Bodensees.

Eine Digitalrep­ortage und das Requiem zum Anhören im Internet auf www.schwäbisch­e.de/absturz

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FOTOS: MAKARTSEV/KOSTENKO Vor fünf Jahren war Taras Kostenko zum letzten Mal mit seiner Mutter an der Gedenkstät­te für den Flugzeugab­sturz von Überlingen. Am 1. Juli 2002 hat seine große Schwester Oksana dort ihr Leben verloren – und 70 weitere Menschen.
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