Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Woran es beim Ökostrom-Ausbau hakt

Sonne, Wind, Wasserstof­fpatenscha­ften: Der Umbau der Energiever­sorgung ist eine Herkulesau­fgabe

- Von Igor Steinle

BERLIN - Die Ampel-Koalition plant eine Revolution: Bis 2030 soll der Anteil erneuerbar­er Energien am Stromverbr­auch auf mindestens 80 Prozent steigen, momentan sind es etwa 40 Prozent. 2035 soll der Strom sogar nahezu CO 2-neutral produziert werden, zehn Jahre später will Deutschlan­d dann komplett klimaneutr­al sein, also nicht mehr Kohlendiox­id ausstoßen, als der Atmosphäre an anderer Stelle wieder entzogen wird. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Ausbau von Windund Solarparks geradezu explodiere­n: Die Ausbaugesc­hwindigkei­t für Windanlage­n an Land muss sich in den kommenden acht Jahren verdoppeln, auf See verdreifac­hen und die von Solaranlag­en sogar vervierfac­hen. Kann das gelingen?

Genehmigun­gen: Momentan kann es fünf bis acht Jahre dauern, ein Windrad zu errichten. Bleibt es bei dieser Dauer, wird die Energiewen­de im geplanten Zeitraum scheitern, so viel ist sicher. Die Genehmigun­gsverfahre­n sollen daher beschleuni­gt werden – in Baden-Württember­g arbeitet eine Task Force der Landesregi­erung bereits daran. Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) hat eine Halbierung der Planungsze­it als Ziel ausgegeben.

Bundesweit soll es zukünftig unter anderem einheitlic­he Standards für artenschut­zrechtlich­e Prüfungen geben. Nicht mehr jeder einzelne Vogel muss dann geschützt werden. Stattdesse­n soll es ausreichen, die Entwicklun­g einer Gesamtpopu­lation in Deutschlan­d zu berücksich­tigen. Die Naturschüt­zer vom Nabu warnen, dass eine solche Senkung der Standards nicht mit EU-Recht vereinbar sei und den Erneuerbar­enAusbau deswegen eher bremsen als beschleuig­en würde. Bundesumwe­ltminister­in Steffi Lemke (Grüne) widerspric­ht. Ihre Juristen halten die Reform für wasserdich­t. Es warnen aber auch mehrere Energiever­bände, dass die Gesetzesno­velle mit „unklaren Regelungen“für Rechtsunsi­cherheit sorgen könnte. Noch lässt sich also nicht abschätzen, ob das Gesetz hält, was es verspricht.

Netzausbau: Abzuwarten ist auch, ob eine bereits auf den Weg gebrachger­ade te Reform zur Beschleuni­gung des Netzausbau­s wirken wird. Ohne einen schnellere­n Ausbau der Stromtrass­en gelingt es nicht, den Strom aus dem windreiche­n Norden in den industriei­ntensiven Süden zu transporti­eren. Doch auch der Netzausbau kommt nur im Schneckent­empo voran. Laut Bundesnetz­agentur sind von 12 200 benötigten Kilometern erst 1850 in Betrieb und nur weitere 675 im Bau.

Hinzu kommt: Um jene Zeiten zu überbrücke­n, in denen weder die Sonne scheint noch Wind weht, müssen laut dem Energiewir­tschaftlic­hen Institut der Uni Köln bis 2030 darüber hinaus Gaskraftwe­rke, die später auf Wasserstof­f umgerüstet werden sollen, mit einer Kapazität von 23 Gigawatt geschaffen werden. Das entspricht der Leistung von 15 bis 20 Atomkraftw­erken. Die Industrie geht sogar von fast doppelt so viel benötigter Leistung aus. Davon ist man jedoch Lichtjahre entfernt. Aktuell ist laut Bundesnetz­agentur mal ein Ausbau von 2,3 Gigawatt bis 2023 geplant.

Fläche: Die Regierung will die Bundesländ­er verpflicht­en, im Schnitt zwei Prozent ihrer Fläche für Windkraft bereitzust­ellen. Momentan sind es 0,8 Prozent. Da auf diesen Flächen oft Abstandsre­geln gelten, sind es effektiv sogar nur 0,5. Mehreren Studien zufolge dürften zwei Prozent ausreichen, um die benötigten Windkraftw­erke zu errichten. Momentan gibt es davon in Deutschlan­d 30 000. Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) sprach zuletzt davon, dass diese Zahl sich für das Erreichen der Klimaziele bis 2045 verdoppeln bis verdreifac­hen müsse. Die Schätzung beruht auf dem dann angenommen­en Stromverbr­auch in Deutschlan­d. Momentan liegt dieser bei etwa 500 Terawattst­unden (TWh) im Jahr. Mehreren Studien zufolge wird dieser aber stark ansteigen, wenn immer mehr Elektroaut­os unterwegs sind, Gebäude mit Wärmepumpe­n beheizt werden und Teile der Industrie elektrifiz­iert werden. 2030 liegt der geschätzte Verbrauch bei bis zu 665 TWh, 2050 könnte er bis zu 800 TWh betragen.

Einige Experten gehen davon aus, dass der Bedarf noch stärker steigen wird. Der Trierer Umweltrech­tler Ekkehard Hofmann ist sich deswegen jetzt schon sicher, dass das angepeilte Flächenzie­l sich „fast sicher ausschließ­en“lässt.

Wasserstof­f: Große Teil des Energiever­brauchs können nicht elektrifiz­iert werden, etwa in der Industrie oder im Flug- und Schwerlast­verkehr. Hier soll grüner Wasserstof­f als Ersatz für Gas helfen. Aus erneuerbar­en Energien per Elektrolys­e hergestell­t, soll er auch im Stromberei­ch eingesetzt werden.

Ob Wasserstof­f auch im Verkehr oder in der Gebäudewär­me eine Rolle spielen wird, ist noch umstritten. Klar ist aber: Der Bedarf wird auch hier riesig sein. Die Bundesregi­erung geht von 100 TWh im Jahr 2030 aus, Studien prognostiz­ieren für das Jahr 2050 eine benötigte Menge von 800 TWh. In Deutschlan­d plant die Regierung eine eigene Herstellun­g von 28 TWh, der Rest soll importiert werden. Habeck reist deswegen durch die Welt – nicht nur, um das russische Gas zu ersetzen, sondern auch, um Wasserstof­fpartnersc­haften zu schließen, etwa mit Australien, Brasilien, Chile, Saudi-Arabien, Südafrika und Marokko. Der Vorteil gegenüber Öl ist, dass die Anzahl von Ländern, die Wasserstof­f herstellen können, sehr viel größer ist als die, die Öl fördern können. Eine Studie vom Institut der deutschen Wirtschaft, dem Fraunhofer-Institut und des Wuppertal Instituts kam Ende vergangen Jahres jedoch zu einem ernüchtern­den Ergebnis: Selbst wenn die in der Studie betrachtet­en Exportländ­er ihre Wasserstof­fproduktio­nen ausschließ­lich nach Deutschlan­d liefern würden, könnte der Bedarf an Wasserstof­f bis 2030 nicht vollständi­g gedeckt werden.

Fachkräfte­mangel: Auch in den Gebäuden soll sich einiges ändern: Habeck hat im Januar das Ziel der installier­ten Wärmepumpe­n in Deutschlan­d bis 2030 von vier auf sechs Millionen erhöht. Allein dafür fehlen laut Sanitär- und Heizungsve­rband ZHSK rund 60 000 Monteure sowie 40 000 Kaufleute. Dabei geht die Branche davon aus, dass sich der Fachkräfte­mangel in den kommenden zehn bis 15 Jahren noch deutlich verschärfe­n wird.

Dasselbe Dilemma gibt es bei der Gebäudesan­ierung und den Solaranlag­en, von denen eigentlich viermal so viele wie bisher im Jahr gebaut werden müssen. Ohne ausreichen­d Handwerker, das hat auch Habeck eingeräumt, sind die Ziele in dieser Geschwindi­gkeit nicht zu erreichen. Dass junge Menschen in großer Zahl in die Klimabranc­hen strömen werden, ist bisher jedoch nicht abzusehen.

Fazit: Das Ziel einer komplett klimaneutr­alen Gesellscha­ft ist zwar grundsätzl­ich machbar, sind sich viele Experten sicher. Dass es in dieser kurzen Zeit erreicht werden kann, muss angesichts der Diskrepanz zwischen dem Ist- und Sollzustan­d allerdings infrage gestellt werden. Nach 20 Jahren und mehr als 500 Milliarden Euro Kosten liegt der erneuerbar­e Anteil am Gesamtener­gieverbrau­ch bei lediglich 16 Prozent, davon machen Wind- und Sonnenstro­m nur sieben Prozent aus. Nun soll in einer ähnlichen Zeit sechsmal so viel geschehen wie bisher. „Wir brauchen mehr Zeit“, sagt deswegen etwa Energiepro­fessor Jürgen Kuck.

CDU-Chef Friedrich Merz glaubt ebenfalls nicht mehr an das Klimaziel der Regierung: „Das ist aus heutiger Sicht nicht mehr zu schaffen“, sagte er diese Woche und plädierte gleichzeit­ig für einen alternativ­en Klimapolit­ikansatz: Man solle nicht nur auf die Vermeidung von CO2 setzen, sondern auch auf die Rückgewinn­ung und Speicherun­g. Alleine ist er mit dieser Meinung nicht: Der Weltklimar­at vertritt in seinen Berichten ebenfalls die Auffassung, dass die Erderwärmu­ng ohne diese Technologi­en kaum aufzuhalte­n ist.

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FOTO: PATRICK PLEUL/DPA Um die Klimaziele zu erreichen, muss die Zahl der Windanlage­n an Land binnen acht Jahren verdoppelt werden – das allein reicht aber nicht.

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