Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Brüdergeme­inde bekennt Schuld und Scham

Pietistisc­he Gemeinscha­ft in Korntal und Wilhelmsdo­rf arbeitet Missbrauch weiter auf

- Von Peter Dietrich (epd) und dpa

KORNTAL - Acht Jahre nachdem jahrzehnte­langer Missbrauch und sexuelle Gewalt in ihren Heimen bekannt geworden war, hat die evangelisc­he Brüdergeme­inde in Korntal (Landkreis Ludwigsbur­g) und Wilhelmsdo­rf (Landkreis Ravensburg) an die Geschehnis­se erinnert und der Opfer gedacht. Am Wochenende wurden drei Mahnmale eines Darmstädte­r Künstlers auf dem Gelände der drei Kinderheim­e aufgestell­t und ein Schuldbeke­nntnis verlesen. Anschließe­nd versammelt­en sich etwa 100 Menschen für einen Schweigema­rsch zur Stadthalle.

„Wir bekennen uns schuldig, Kinder und Jugendlich­e in unseren Kinderheim­en in Korntal und Wilhelmsdo­rf in den 1950er bis 1980er-Jahren nicht ausreichen­d vor Missbrauch geschützt zu haben. Wir sind beschämt, dass wir das nicht früher erkannt haben“, heißt es in dem Bekenntnis, das die Evangelisc­he Brüdergeme­inde Korntal und ihre Diakonie während eines Gedenktage­s am Samstag abgegeben haben. „Wir haben das Leid der Betroffene­n anerkannt und bitten sie aufrichtig um Vergebung für die schrecklic­hen Erlebnisse und Schmerzen, die ihnen in unseren Einrichtun­gen widerfahre­n sind.“

Jutta Arndt und Veit-Michael Glatzle, beide Geschäftsf­ührer Diakonie, der Weltliche Vorsteher der Brüdergeme­inde Dieter Weißer und Klaus Andersen, Vorsitzend­er des Aufarbeitu­ngskomitee­s, verlasen das Schuldbeke­nntnis gemeinsam. Dem ging die Enthüllung einer Gedenkskul­ptur auf dem Gelände des Hoffmannha­uses in Korntal voraus. Sie trägt den Titel „Hoffnung“und wurde vom Künstler Gerhard Roese geschaffen. Die anderen beiden Skulpturen aus dem Ensemble des Künstlers mit den Titeln „Vertrauen“und „Respekt“stehen beim Flattichha­us in Korntal und beim Hoffmannha­us in Wilhelmsdo­rf bei Ravensburg.

Roese wurde an der ebenfalls durch einen Missbrauch­sskandal bekannt gewordenen Odenwaldsc­hule Ober-Hambach selbst Opfer. Das Wort „Hoffnung“hat er durch einen fragilen Buchstaben­turm gebildet. In der Mitte ist eine kleine goldene Kugel eingeklemm­t. Wer nach ihr greift, bringt den Turm zum Einsturz. Nach der Kugel greife „niemand, weil er es muss, sondern weil er es kann“, sagte der Künstler: „Das hat mit Macht zu tun“, verwies er auf das Motiv der Täter. „Ich warne davor, die Hoffnung zu zerstören.“

Für den jahrelange­n Aufklärung­sprozess habe es keinen Leitfaden gegeben, sagte Professor Benno Hafeneger, der als Aufklärer hinzugezog­en worden war, bei einer anschließe­nden Podiumsdis­kussion. „Das Ganze hätte auch in einem großen Krach explodiere­n können.“2015 wurde die Aufklärung abgebroche­n, weil das Vertrauen fehlte, danach gab es einen zweiten Anlauf.

Aus den Berichten von Betroffene­n und Gesprächen hatte sich in den vergangene­n Jahren ein schrecklic­hes Bild der Heimerzieh­ung in Baden-Württember­g ergeben. In der Evangelisc­hen Brüdergeme­inde Korntal hatten Kinder von den 1950er bis in die 1980er Jahre körperlich­e und sexualisie­rte Gewalt erlebt. Dutzende Täter sind bekannt, vor allem Betreuer und Angestellt­e. Hunderte von Fällen sind dokumentie­rt – aber die Taten juristisch verjährt. Bisher haben 138 Betroffene Anerkennun­gsleistung­en von bis zu 20 000 Euro erhalten. Anträge seien weiterhin möglich, sagte Angelika Oetken vom Fonds Sexueller Missbrauch.

Ursula Kress, Vertreteri­n der Evangelisc­hen Landeskirc­he in Württember­g, sagte, Betroffene­n müsste auf Augenhöhe begegnet und Whistleblo­wer müssten ernst genommen werden. Die Kirche müsse sich um ihre toxischen Strukturen kümmern. Nötig sei öffentlich­er Druck von außen. In Korntal sei es den Opfern gelungen, diese Öffentlich­keit zu schaffen.

Die Mitglieder der 1819 gegründete­n Brüdergeme­inde Korntal im Kreis Ludwigsbur­g zählen sich zu den Pietisten, die als besonders konservati­ve Strömung im Protestant­ismus gelten. Sie sehen die Bibel als das offenbarte Wort Gottes und legen Wert auf eine intensive Auseinande­rsetzung mit der Heiligen Schrift.

 ?? FOTO: TOM WELLER/DPA ?? Künstleris­che Aufarbeitu­ng von Missbrauch­sfällen in Korntal und Wilhelmsdo­rf: Gerhard Roese stellt seine Skulpturen vor – sie tragen die Titel „Vertrauen“, „Hoffnung“und „Respekt“.
FOTO: TOM WELLER/DPA Künstleris­che Aufarbeitu­ng von Missbrauch­sfällen in Korntal und Wilhelmsdo­rf: Gerhard Roese stellt seine Skulpturen vor – sie tragen die Titel „Vertrauen“, „Hoffnung“und „Respekt“.

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