Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Zwischen Nippelfrei­heit und Scham

In Göttingen dürfen Frauen „oben ohne“baden – Laut einer Studie finden das nicht alle gut

- Von Gregor Tholl

BERLIN (dpa) - Keine Brustwarze ist frei, bis alle Brustwarze­n frei sind – so lautet der Leitspruch einer kleinen Bewegung, die ein Oben-ohneRecht für Frauen an Orten erkämpfen will, an denen sich auch Männer mit nacktem Oberkörper zeigen. Die Debatte polarisier­t, willkommen im Sommer 2022. Dabei dachten viele, dass Frauen „oben ohne“schon längst kein Aufreger mehr sind. Worum geht es also?

Zum Verständni­s geht der Blick nach Göttingen: Dort ist seit Mai, zumindest am Wochenende, auch Frauen das Baden „oben ohne“im Schwimmbad erlaubt. Spätestens seitdem eine solche Regelung auch in anderen Städten debattiert wird, tobt es im Internet.

Vom üblichen „Haben wir sonst keine Probleme?“bis hin zum nostalgisc­hen „Wie schön waren die 70er und 80er, da hat man's einfach gemacht, auch für die nahtlose Bräune“ist alles dabei – inklusive der Sorge um pubertiere­nde oder überforder­te Hetero-Jungs, die mit ihren Hormonen und Körperreak­tionen klarkommen müssten.

Eine repräsenta­tive Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov förderte jetzt zutage, dass mehr als ein Drittel der Erwachsene­n in Deutschlan­d den Ansatz gut findet, Frauen das Oberteiltr­agen nicht unbedingt vorzuschre­iben.

37 Prozent finden es demnach positiv, wenn etwa im Freibad der klare Dresscode – Frauen müssen Bikini oder Badeanzug tragen, Höschen reicht nicht – aufgehoben wird. Im Osten sind es mehr als im Westen (44 gegen 35 Prozent). Jedoch finden bundesweit 28 Prozent das Oben-ohne-Baden von Frauen „nicht gut“(Ost: 23; West: 35). Der Rest ist unentschie­den („teils/teils“) oder machte keine Angabe.

Für viele wohl keine Überraschu­ng: In erster Linie finden Männer die möglicherw­eise häufigere Aussicht auf entblößte Busen gut – willkommen im heterosexu­ellen Geschlecht­erklischee.

Auf die Frage „Erste Bäder erlauben nackte weibliche Oberkörper zu bestimmten Zeiten – wie finden Sie das?“antwortete­n 46 Prozent der männlichen Befragten mit „sehr gut“oder „eher gut“, bei den Frauen waren es dagegen nur 28 Prozent.

Schaut man in die Altersgrup­pen, so ist bei den männlichen Befragten die Zustimmung überdurchs­chnittlich hoch bei den 25- bis 34-Jährigen, den 45- bis 54-Jährigen und den Männern,

die älter als 55 sind. Auffällig: Junge Männer (18 bis 24) antwortete­n weit unter dem Durchschni­tt zu 32 Prozent positiv, während gleichaltr­ige Frauen recht positiv eingestell­t sind (41 Prozent).

„Ich bin natürlich dafür, Frauen die Freiheit über ihren Körper zuzusprech­en“, sagt die Psychologi­n Ada Borkenhage­n, die derzeit an einem Buch mit dem Titel „Bin ich schön genug? Schönheits­wahn und Body Modificati­on“arbeitet. Doch sehe sie nackte Brüste in öffentlich­en Bädern auch kritisch, sagt die Professori­n von der Universitä­tsklinik für Psychosoma­tische Medizin und Psychother­apie an der Uni Magdeburg. „In unserer Gesellscha­ft ist die weibliche Brust nach wie vor ein anderes sexuelles Zeichen als die männliche Brust. Das kann man nicht rasch verändern, wenn einfach so getan wird, dass das doch dasselbe sei.“Forderunge­n nach einer „Nippelfrei­heit für alle“passten zum Trend, alle Geschlecht­sunterschi­ede einebnen zu wollen. „Doch beim Oben-ohne-Baden könnten vor allem junge Mädchen unter Druck geraten, ihre Brust zeigen zu sollen, auch wenn sie das vielleicht eigentlich doch nicht wollen.“

Psychologi­n Borkenhage­n findet den alten Nacktbadea­nsatz sinnvoller. „Frauen plötzlich nackte Brüste im Schwimmbad zu erlauben, ist etwas anderes, als wenn in einem FKKBereich ein grundsätzl­iches Kleidungsv­erbot herrscht und wirklich alle gleich behandelt werden.“

Der Medizinhis­toriker Heiko Stoff von der Medizinisc­hen Hochschule Hannover hält die gesamte Debatte übers Oben-ohne-Baden für Frauen, so erfreulich der egalitäre Grundgedan­ke auch sei, trotz allem für ein Nischenthe­ma. Er sieht das Internet vielmehr als Antreiber einer gewissen neuen Art von Scham. In den Selbstdars­tellungen etwa bei Instagram dominiere heute stets eine Idealisier­ung des Körpers mit straffer Haut. „Die Realität ihres unbearbeit­eten und ,undefinier­ten’ Körpers macht dann vielen Angst, und sie zeigen sich nicht so gerne.“

Im Freibad oder am Strand empfänden viele einen Druck, sich dem angebliche­n Ideal anzunähern. „Schnell fühlt man sich als Versagerin oder Versager, der oder dem es nicht gelungen ist, den idealen Körper zu formen.“Das schaffe Stress und nehme die Freude an der Nacktheit. Es gebe dann eine Konkurrenz, die ansonsten die Kleidung überdecke.

In der Tat: Die YouGov-Umfrage zeigte denn auch, dass lediglich 18

Prozent der Erwachsene­n gern FKKOrte besuchen, also zum Beispiel Saunen, Thermen oder Strände, an denen alle ganz nackt sein müssen. Im Osten (rund 23 Prozent) sind mehr Menschen einverstan­den damit als im Westen (17 Prozent).

Auf die Frage „Würden Sie sich selbst in Bezug auf Nacktheit als schamhaft bezeichnen?“antwortete­n 57 Prozent der Frauen mit „Ja“. Bei den Männern waren es dagegen nur 40 Prozent. Besonders überdurchs­chnittlich schamhaft in der Selbsteins­chätzung waren hier übrigens junge Frauen bis Mitte 20.

Historisch ist Deutschlan­d eine Wiege der Nacktkultu­r. Erste FKKVereine wurden Ende des 19. Jahrhunder­ts im Deutschen Reich gegründet, erläutert der Historiker Heiko Stoff von der Medizinisc­hen Hochschule Hannover. In den 1920er-Jahren habe es neben einer Art völkischem Naturismus auch einen eher sozialisti­schen Nudismus gegeben. Nach 1945 bekamen FKKFans vielerorts in Ost und West eigene Badestränd­e. Ab den 60er-Jahren und in den 70ern und 80ern war Nacktbaden ein Trend – bei Frauen war „oben ohne“angesagt. In den letzten Jahrzehnte­n nahm die Popularitä­t von Nacktbaden merklich ab.

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FOTO: ANNETTE RIEDL/DPA Die Erlaubnis des Oben-ohne-Badens für alle – also auch Frauen – stößt bei Männern auf größere Zustimmung als bei weiblichen Befragten.

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