Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Sanktionen treffen Start-up-Gründer hart
Tim Mergelsberg produziert nachhaltige Fußböden aus Birkenrinde
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SEITINGEN-OBERFLACHT - Mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachtet der gebürtige Seitingen-Oberflachter Tim Mergelsberg die Lage seiner beiden Unternehmen. Einerseits wird sein Start-up „nevi“gerade mit Preisen überhäuft, andererseits steht sein etabliertes Unternehmen „sagaan“kurz vor dem Aus. Der Grund: Er bezieht Birkenrinde aus Sibirien, das von den Sanktionen gegen Russland betroffen ist – die Zukunft für den Unternehmer mit Sitz in Görlitz ist mehr als ungewiss.
Schon früh interessierte sich Tim Mergelsberg für innovative und nachhaltige Projekte. 2001 wurde er zum Preisträger des Aesculap-Umweltpreises. Dieser ökologischen Verantwortung blieb er treu. Vor drei Jahren und damit mitten in der Coronapandemie gründete er das Start-up „nevi“. Dieses verarbeitet die schnell nachwachsende Birkenrinde zu Fußböden. Hierzu wird die Rinde zu großen Blöcken zusammengepresst. Das Verfahren an sich sei nicht neu, erklärt Mergelsberg. Doch nachdem die Birkenrinde seit Jahrhunderten zwar äußerst beliebt, doch nur handwerklich verwertbar war, wird sie nun zum ersten Mal industriell nutzbar.
Auf das Material kam Mergelsberg durch seinen Zivildienst, den er in einer russischen Einrichtung für Menschen mit Behinderung absolvierte. Bereits seit 20 Jahren arbeitet er ausschließlich mit Birkenrinde. „Es kann so viel. Es ist ein einzigartiges Material“, schwärmt er. Beispielsweise saugt es sich nicht mit Wasser voll wie normales Holz, sodass es sich für eine Nutzung in privaten, aber auch öffentlichen Bädern anbietet. Zudem sei Birkenrinde hautneutral und daher gut bei Hautkrankheiten. „Sie fühlt sich ein bisschen wie Leder an“, beschreibt der Unternehmer.
Sein Start-up wurde mit mehreren Preisen in der Nachhaltigkeitsund Architekturszene ausgezeichnet. „Nachwachsende Fußböden sind ein Trendthema“, erklärt Mergelsberg. In Stuttgart habe sein Produkt bei einem Branchenpreis in allen Kategorien – Ökologie, Design, Innovation und Klassiker – überzeugen können und daher einen Sonderpreis erhalten, berichtet der Unternehmer.
Doch während sein zweites Startup mit mehreren Preisen ausgezeichnet wird, steht sein erstes –„sagaan“– vor dem Aus. Das vor 17 Jahren gegründete Unternehmen stellt Plastikalternativen aus Birkenrinde her. Bis vor Kurzem war es noch Mergelsbergs wirtschaftliches Standbein, nun klagt er: „Wir sind Kategorie Kollateralschaden.“Die verarbeitete Birkenrinde habe keine eigene Zollgruppe und falle daher unter die gleiche wie Holz, für das ein Importstopp verhängt wurde. Die Geschäftsgrundlage ist dahin. Das Glück im Unglück: Die Rinde selbst fällt nicht in diese Zollgruppe und kann (noch) importiert werden – „nevi“kann weiter produzieren.
„Wir hoffen – wie alle – auf eine friedliche Lösung“, sagt Mergelsberg. Niemand habe mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine gerechnet, auch er nicht. Dennoch betont er: „Das Prinzip ,Wandel durch Handel’ gilt als gescheitert – das erleben wir aber anders.“Mergelsberg begegne den Menschen in Sibirien auf Augenhöhe, sagt er. So sei es zu einer Annäherung gekommen. Die Sanktionen stellen nun einen Rückschlag dar. Sie würden auch die progressiven Kräfte treffen, die sich nun vom Westen abund Putin zuwenden. Der Unternehmer beobachtet, dass der Krieg und die westlichen Sanktionen Familien spalte und Existenzen zerstöre.
Von der Politik fühlt er sich im Stich gelassen: „Wir stehen relativ allein da.“Als mittelständisches Unternehmen seien sie ein „kleiner Fisch“, ein „Spielball“. Im Moment habe er keine Möglichkeiten, gestaltend zu handeln, sondern sei gezwungen, auf die politischen Entwicklungen zu reagieren. „So ist ein wirtschaftliches Überleben langfristig aber nicht möglich“, erklärt Mergelsberg.
Notgedrungen beschäftigt er sich nun auch mit anderen Produktionsländern. In Frage kommen Länder aus Skandinavien und dem Baltikum. Außerdem hält er nach knapp 20 Jahren, in denen er Produkte aus Birkenrinde entwickelte, zum ersten Mal nach anderen Materialien Ausschau: „Wir sind gut vernetzt.“Er stellt aber auch klar: „Wir wollen unserem Partner in Sibirien nicht in den Rücken fallen.“