Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Vom Dasein zwischen den Geschlechtern
Patricia-Achim Kleyer erzählt vom Weg zu sich selbst: Erst Mann, dann Frau, jetzt als divers anerkannt
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BAIENFURT - Patricia-Achim Kleyer blättert in einem dicken Aktenordner voller Unterlagen. Die Papiere dokumentieren einen langen Weg. Einen Weg, der kürzlich mit der gerichtlich erstrittenen Personenstandsänderung zur diversen Person ein vorläufiges Ende gefunden hat. Für Kleyer aus Baienfurt der Beginn eines „dritten Lebens“. Und trotzdem noch nicht das Ende von Kleyers Bemühungen für mehr Sichtbarkeit und Anerkennung von Menschen, die nicht in die gängigen Geschlechter-Schubladen von Mann und Frau passen.
Aktuell läuft die sogenannte Prideweek in Oberschwaben, eine Aktionswoche für sexuelle Vielfalt. Am Samstag wird die Community der Menschen, die etwas anderes leben als Heterosexualität, und ihre Unterstützer auf die Straße gehen. Für die Mitglieder dieser Community gilt der Sammelbegriff queer. Mit der Parade von Ravensburg nach Weingarten soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass queere Menschen gesellschaftlich sowie gesetzlich diskriminiert würden, schreibt der veranstaltende Verein „Übergang zur Vielfalt“vorab. „Das muss sich ändern.“
Dieser Meinung ist auch PatriciaAchim Kleyer, zum Pressegespräch in Kunstledershorts, buntem Shirt und Paillettenmütze gekleidet – vor gut 50 Jahren in Ravensburg als Junge geboren und aufgewachsen. Kleyer habe als Junge schon früh mit Geschlechterklischees gehadert, ohne es benennen zu können. Homosexualität habe in Oberschwaben als etwas gegolten, wofür man „gelyncht“worden wäre, so zumindest Kleyers Erinnerung.
Als Teenie habe er im Kino gemerkt, was mit ihm los sei: Er sah die Rocky Horror Picture Show, wo zum Song „Sweet Transvestite“ein Mann in Mieder, Strapsen und Pumps, mit roten Lippen und geschminkten Augenlidern auftritt. Seine Gedanken damals seien gewesen: „Genau das bin ich. Nicht Mann, nicht Frau.“
Doch er lebt sein männliches Leben weiter, hat eine Lebensgefährtin, mit der er zusammenlebt. Sie sei eines Abends früher als von Kleyer erwartet vom Kegelabend zurückkehrt. Er stand in ihren Kleidern und geschminkt in der Wohnung. Sie sei entsetzt gewesen, Hals über Kopf ausgezogen, die Beziehung endete. Trotzdem ging Kleyer einige Zeit später noch eine Beziehung mit einer Frau ein, war dort aber offener und wurde von der Freundin sogar ermuntert, seine Wünsche auszuleben, auch wenn die Beziehung letztlich zu Bruch ging. Auch die Familie wandte sich ab. 2016 kleidete sich Kleyer bereits
ANZEIGEN gerne in rosaroten Farben und begann im Zuge einer beruflichen Neuorientierung einen Job als Außendienstler in der Modeschmuckbranche. „Sie sind ein Paradiesvogel, so was passt zu uns, sagte die, die mich eingestellt hat“, erinnert sich Patricia-Achim Kleyer heute.
Die Fortschritte auf rechtlicher und politischer Ebene zur Anerkennung eines dritten Geschlechts ermutigten damals Achim Kleyer, sich um die Eintragung als diverse Person zu bemühen. Am Ravensburger Amtsgericht jedoch wird ihm dies nicht zugestanden. Nach Ansicht der Richterin hat er laut Transsexuellengesetz nur die Möglichkeit, sich als Frau eintragen zu lassen, was ihm im Sommer 2020 gelingt. Das war der Beginn eines „zweiten Lebens als Frau, das habe ich sehr genossen“, sagt Kleyer im Rückblick. Sie unterzieht sich einer Operation, um weibliche Brüste zu haben. „Das war mein dringendster Wunsch“, so Kleyer. Weitere geschlechtsanpassende Operationen seien in Zukunft aber nicht geplant.
Zu ihrem Markenzeichen gehörte weiterhin der knallrote Lippenstift, immer noch in Anlehnung an die „Rocky Horror Picture Show“, und die in mehreren Farben geschminkten Augenlider – „mein Regenbogen“, wie Kleyer sagt. Aber damit war Kleyer noch nicht am Ziel, der Eintragung als divers. Laut Duden bedeutet divers: nicht der binären
Einteilung in Mann und Frau entsprechend.
Die Eintragung als divers ist eigentlich den Menschen vorbehalten, die im Hinblick auf ihr Geschlecht medizinisch nicht eindeutig der Kategorie männlich oder weiblich zugeordnet werden können, wie es bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes heißt. Das Bundesverfassungsgericht habe allerdings in seiner Rechtsprechung auch schon darauf verwiesen, dass die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem bestimmten Geschlecht nicht allein von seinen körperlichen Geschlechtsmerkmalen, sondern wesentlich auch von seiner subjektiven Geschlechtsidentität bestimmt wird.
Und tatsächlich erstreitet sich Kleyer ohne die Voraussetzung einer sogenannten „Variante der Geschlechtsentwicklung“im März 2022 die Eintragung „divers“vor Gericht und lässt den Geburtenregistereintrag in Ravensburg entsprechend ändern. Das Amtsgericht Ravensburg hatte auf Grundlage einer Bundesgerichtshofs-Entscheidung zu dem Thema schließlich argumentiert, dass eine empfundene Intersexualität eine Personenstandsänderung in divers rechtfertigt.
Seit es im Januar 2019 möglich geworden ist, wurden in Ravensburg erst zwei Geburtsregistereinträge auf divers geändert, wie es aus dem Ravensburger Standesamt auf Anfrage heißt. Die Urkunde wird immer dort geändert, wo jemand geboren wurde, nicht dort, wo jemand lebt.
Für Kleyer steht fest: „Das ist mein drittes Leben, ich werde schauen, wohin die Reise geht.“Kleyer freut sich darauf, dieser Tage nun auch noch den neuen Personalausweis abzuholen, der auf divers ausgestellt ist. Kleyer ist jetzt ein Präzedenzfall. Zum Beispiel für die Hausbank, die noch nicht die Möglichkeit hat, diverse Personen in ihrer Kundendatenbank anzulegen. Wünschenswert wäre, so Kleyer, dass nicht nur nach außen bei Stellenausschreibungen männliche, weibliche und diverse Bewerber angesprochen werden, sondern sich auch Kunden als divers registrieren können und so angesprochen werden. „Frauherr“findet Kleyer die richtige Anrede.
Beim Pronomen wird es schon schwieriger. Wie soll man Menschen des dritten Geschlechts bezeichnen, wenn man über sie redet? Wenn er und sie nicht mehr passend sind? Es? Das findet auch Kleyer nicht passend und würde sich eine Wortneuschöpfung wünschen. Im Gespräch waren unter anderem schon „em“oder „sier“als Mix aus sie und er.
Von der Gesellschaft wünscht sich Kleyer Toleranz und sagt: „Es wäre wichtig, dass Kinder lernen, dass es viel mehr gibt als Frau und Mann, mehr als Hetero- und Homosexualität.“Da sei nicht nur die Schule, sondern seien auch die Eltern gefragt. Dass Kritiker eine Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen fürchten, entgegnet Kleyer: „Bloß niemanden dazu aufzuklären aus der Befürchtung heraus, die könnten ja ,Was-weiß-ich’ werden, ergibt keinen Sinn.“Gleichzeitig sei es „ein schwieriger Spagat, wann man bei Kindern anfängt“. Irgendwann würden die Kinder oder Jugendlichen mit solchen Realitäten konfrontiert und sollten dann darauf vorbereitet sein, meint Kleyer.
Erst kürzlich habe jemand aus einer Schulklasse heraus im Vorbeigehen „Tunte“gerufen. Kleyer habe es lieber, wenn jemand „offen und neugierig fragt“. Mit der eigenen Familie aber sei es zum Bruch gekommen aufgrund der Abkehr von der männlichen Identität. Bei Kontakt zu Leuten, die Lebensart und Auftreten Kleyers für Spinnerei halten, wird es mit „Aufklärung“versucht. „Ich merke aber schon bei den ersten zwei Sätzen, ob das ankommt“, sagt Kleyer. „Wenn nicht, gehe ich auf Abstand. Man kann niemanden auf den Kopf stellen und ihm die eigene Meinung aufzwingen.“
Videointerview
Ein kurzes mit Patricia-Achim Kleyer finden Sie unter www. schwäbische.de/ divers