Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Mama, donnert es wirklich nur?“

Olena und Vladyslav Borets sind aus der Ukraine nach Hettingen geflüchtet und erzählen von ihren Erlebnisse­n

- Von Mandy Hornstein

HETTINGEN - Achtmal, über mehrere Wochen hinweg, haben Olena Borets und ihr Sohn Vladyslav versucht, über die ukrainisch­e Grenze zu kommen, um vor dem Krieg zu flüchten. Darunter einige Male mit dem Auto, bis es schließlic­h mit dem Zug beim achten Versuch geklappt hat. Was die Sache so schwierig gemacht hat: Vladyslav ist 18 Jahre alt und Student.

Offiziell sind Studenten vom Militärein­satz befreit – trotzdem müsse zuerst ein ganzer Stapel Papiere organisier­t werden, damit ein 18-jähriger Mann tatsächlic­h das Land verlassen darf, erzählen die beiden ihrer Übersetzer­in Sneschana Peter, die selbst vor rund 20 Jahren aus der Ukraine nach Deutschlan­d gekommen ist.

Seit dem 1. Juni sind Olena und Vladyslav nun bei Gabi Krall und ihrer Familie in Hettingen untergekom­men und wohnen im Zimmer eines der Söhne, der beim Studieren ist. „Es sind erst drei Wochen, aber für uns gehören die beiden bereits zur Familie“, sagt Krall. Eine Freundin habe die beiden Geflüchtet­en nach Hettingen vermittelt. „Und für uns ist es selbstvers­tändlich, zu helfen“, sagt sie.

Olena und Vladyslav Borets haben auf ihrer Flucht und in den Wochen zuvor einiges erlebt. Vladyslav habe nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt studiert. „Die Idee zu flüchten kam von meinem Mann“, erzählt Olena auf ukrainisch. Er habe sich Sorgen gemacht, dass die Gesetze geändert werden und Vladyslav aus dem Studium an die Front gerissen werde.

Für ihn selbst sei es nicht in Frage gekommen zu flüchten, erzählt Olena, die bereits seit 20 Jahren verheirate­t ist. Ihr Mann arbeitet aktuell weiter unter Tage in einem Schacht, in dem Metall produziert werde. Für ihn sei es klar, dass die Infrastruk­tur im Land weitergehe­n muss, sie hätten jedoch täglich Kontakt zueinander.

Um von ihrer Heimatstad­t Kryvyy Rih über 2200 Kilometer bis nach Hettingen zu kommen, waren Olena und Vladyslav einige Tage mit dem Zug unterwegs. Als sie schließlic­h in Hettingen ankamen, hatten sie bereits seit vier Tagen nicht mehr geschlafen, erzählt Olena und spricht aber sogleich davon, wie dankbar sie seien, mit offenen Armen empfangen worden zu sein.

„Es ist unglaublic­h, dass unser eigenes Nachbarlan­d uns angreift und wir so weit weg in Deutschlan­d so herzlich empfangen werden“, sagt sie kopfschütt­elnd. Auch für Übersetzer­in Sneschana Peter ist die Situation

noch immer nicht begreifbar. Die beiden Frauen haben sich erst über die Familie Krall kennengele­rnt, kommen zufällig aus der gleichen Stadt in der Ukraine und sind sich bei ihrer ersten Begegnung in die Arme gefallen. Nicht nur die Heimatstad­t, sondern auch die Angst um Familie und Freunde verbindet die beiden miteinande­r.

Als es während des Gesprächs zu donnern beginnt, zuckt Vladyslav merklich zusammen und wird zunehmend unruhiger. „Mama, donnert es auch wirklich nur?“, fragt er seine Mutter auf ukrainisch. „Jedes Mal, wenn es zu donnern beginnt, fragt Vladyslav nach, ob es auch wirklich nur donnert“, erklärt seine Mutter die Reaktion. Er habe keine Angst vor Gewitter, aber fürchte das Geräusch, das sich wie der Beschuss der militärisc­hen Truppen anhört.

Damit verbindet Olena auch das einschneid­enste Erlebnis auf ihrer Flucht mit dem Zug. Zu Beginn ihrer Reise habe der Zug auf der Strecke plötzlich angehalten und alle Lichter seien ausgegange­n. „Uns wurde gesagt, es sei ein technische­r Defekt“, sagt sie. Später hätten sie mitbekomme­n, dass das Gebiet unweit der Zugstrecke von Raketen getroffen worden sei.

Wie ihre Zukunft aussehen wird, wissen Olena und Vladyslav aktuell nicht. „Wir müssen schauen, wie sich alles für uns entwickelt“, sagt Olena. Aktuell stünden sie noch auf der langen Warteliste des Jobcenters für einen Deutschkur­s, damit Olena irgendwann wieder als Musikschul­lehrerin arbeiten kann. Damit sie die Zeit besser überbrücke­n und ihre Gefühle ausdrücken kann, haben ihr die Kralls ein Keyboard besorgt, auf dem sie ukrainisch­e Lieder spielt. „Wenn ich spiele und singe, kommt das direkt aus dem Herzen“, sagt sie. So seien sie ganz nah bei ihren Liebsten, obwohl sie doch so weit weg seien.

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FOTO: MANDY HORNSTEIN Die Ukrainerin Sneschana Peter (links) lebt bereits seit 20 Jahren in Deutschlan­d und übersetzt für Vladyslav und Olena Borets, die vor kurzem aus der Ukraine geflüchtet sind.

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