Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Aus der Kurve an die Spitze
Ex-Ultra Kay Bernstein ist neuer Hertha-Präsident – Fans hoffen auf mehr Einfluss
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BERLIN/MÜNCHEN (SID) - Sig Zelt macht aus seinem Herzen keine Mördergrube. „Ich bin ja Unioner“, betont der Sprecher des Bündnisses „Pro Fans“, trotzdem habe er Kay Bernstein zur Wahl zum Präsidenten von Hertha BSC gratuliert. Ein früherer Ultra an der Spitze eines traditionsreichen Bundesliga-Clubs – „aus unserer Sicht ist das eine erfreuliche, eine großartige Sache“, sagt Zelt und betont: „Das war ein guter Tag.“
Zumindest für die organisierten Anhänger in der Fußball-Republik. Manchem Bundesliga-Boss mag die Krönung von König Kay I. den Angstschweiß auf die Stirn getrieben haben. Wenig fürchtet die alte Elite so sehr wie die Basis. Doch die macht längst mobil – mit Erfolg. Sogar Branchenprimus Bayern München kommt beim heiklen Thema Katar nicht mehr am eigenen Anhang vorbei. Und auch der Deutsche FußballBund (DFB), über Jahrzehnte Bastion des Bewahrens, hört zu.
Das Beispiel Hertha zeige, „dass es möglich ist, mehr Einfluss und sogar Mehrheiten zu bekommen“, sagt
Zelt. Er spricht von einem „Signal“und hält Ähnliches bei anderen Clubs für möglich – sofern Bernstein Erfolg hat. Bei Hertha habe „das sogenannte Establishment“über Jahre enttäuscht, „da wurde so viel Geld verbrannt“, sagt er. „Man kann nur hoffen, dass der Neuanfang gelingt.“Zu tun gibt es reichlich. Der sportliche Misserfolg, ein kaputtes Image, tiefe Gräben innerhalb des Vereins, eine wirtschaftlich angespannte Lage
trotz des üppigen Millionen-Invests von Lars Windhorst, das offene Stadionprojekt – die Liste der Problemfelder und Aufgaben für Bernstein ist lang.
Bernstein, Inhaber einer Kommunikationsund Eventagentur, punktete mit seiner Authentizität, Emotionalität und Fannähe. Er war Mitglied der Ultra-Gruppierung „Harlekins '98'“, seine Leidenschaft für den Club ist glaubwürdig, für viele steht er für einen echten Neuanfang. „Unsere Alte Dame liegt auf der Intensivstation“, sagte der neue Präsident nach seiner Wahl, „wir können sie nun von innen wieder heilen – und das geht nur zusammen.“
Doch nicht nur beim HauptstadtClub verändern sich die Machtverhältnisse, auch andernorts tut sich was. Die Bayern laden ihre kritischen Fans nach den Tumulten bei der jüngsten Jahreshauptversammlung am 4. Juli zum Runden Tisch in Sachen Katar. Der DFB hielt zur Lage im umstrittenen WM-Gastgeberland kürzlich ein Diskussionsforum mit Anhängern ab und bat die komplette Nationalmannschaft dazu. Bei Bundesliga-Aufsteiger Schalke 04 sieht die Satzung einen Platz im Aufsichtsrat
für den Verband der Fanclubs vor. Bei Borussia Mönchengladbach garantieren die Statuten dem Chef des Fanprojekts einen Sitz im Ehrenrat.
„Der öffentliche Druck durch Fans wird wahrgenommen, man kann ihre Stimme nicht mehr so klein reden wie es vor der Pandemie der Fall war“, sagt Helen Breit von „Unsere Kurve“. Breit saß als eine von insgesamt sechs Fan-Vertretern und -Vertreterinnen in der 37-köpfigen DFL-Taskforce „Zukunft Profifußball“. Sie freut sich „massiv“, dass sich etwas tut, gibt sich allerdings keinen Illusionen hin. In Sachen Mitspracherecht sieht Breit „nüchtern betrachtet keinen allgemeinen Positivtrend“. Zelt meint, er habe schon „viel Unmut gesehen, aber in den Mitgliederversammlungen wurden die Mehrheiten dann verfehlt, zum Teil erheblich“.
Auch vom DFB erwartet er keine komplette Kehrtwende. Das zeige dessen Weigerung, die Basis zum Thema Katar-Boykott zu befragen. „Das finden wir schade“, sagt Zelt und hält fest: „Wir haben eine andere Haltung als der DFB.“Auch deshalb hoffen viele Fans künftig auch auf mehr Einfluss beim Verband.