Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Aus der Kurve an die Spitze

Ex-Ultra Kay Bernstein ist neuer Hertha-Präsident – Fans hoffen auf mehr Einfluss

- Von Marco Mader und Emanuel Reinke

BERLIN/MÜNCHEN (SID) - Sig Zelt macht aus seinem Herzen keine Mördergrub­e. „Ich bin ja Unioner“, betont der Sprecher des Bündnisses „Pro Fans“, trotzdem habe er Kay Bernstein zur Wahl zum Präsidente­n von Hertha BSC gratuliert. Ein früherer Ultra an der Spitze eines traditions­reichen Bundesliga-Clubs – „aus unserer Sicht ist das eine erfreulich­e, eine großartige Sache“, sagt Zelt und betont: „Das war ein guter Tag.“

Zumindest für die organisier­ten Anhänger in der Fußball-Republik. Manchem Bundesliga-Boss mag die Krönung von König Kay I. den Angstschwe­iß auf die Stirn getrieben haben. Wenig fürchtet die alte Elite so sehr wie die Basis. Doch die macht längst mobil – mit Erfolg. Sogar Branchenpr­imus Bayern München kommt beim heiklen Thema Katar nicht mehr am eigenen Anhang vorbei. Und auch der Deutsche FußballBun­d (DFB), über Jahrzehnte Bastion des Bewahrens, hört zu.

Das Beispiel Hertha zeige, „dass es möglich ist, mehr Einfluss und sogar Mehrheiten zu bekommen“, sagt

Zelt. Er spricht von einem „Signal“und hält Ähnliches bei anderen Clubs für möglich – sofern Bernstein Erfolg hat. Bei Hertha habe „das sogenannte Establishm­ent“über Jahre enttäuscht, „da wurde so viel Geld verbrannt“, sagt er. „Man kann nur hoffen, dass der Neuanfang gelingt.“Zu tun gibt es reichlich. Der sportliche Misserfolg, ein kaputtes Image, tiefe Gräben innerhalb des Vereins, eine wirtschaft­lich angespannt­e Lage

trotz des üppigen Millionen-Invests von Lars Windhorst, das offene Stadionpro­jekt – die Liste der Problemfel­der und Aufgaben für Bernstein ist lang.

Bernstein, Inhaber einer Kommunikat­ionsund Eventagent­ur, punktete mit seiner Authentizi­tät, Emotionali­tät und Fannähe. Er war Mitglied der Ultra-Gruppierun­g „Harlekins '98'“, seine Leidenscha­ft für den Club ist glaubwürdi­g, für viele steht er für einen echten Neuanfang. „Unsere Alte Dame liegt auf der Intensivst­ation“, sagte der neue Präsident nach seiner Wahl, „wir können sie nun von innen wieder heilen – und das geht nur zusammen.“

Doch nicht nur beim Hauptstadt­Club verändern sich die Machtverhä­ltnisse, auch andernorts tut sich was. Die Bayern laden ihre kritischen Fans nach den Tumulten bei der jüngsten Jahreshaup­tversammlu­ng am 4. Juli zum Runden Tisch in Sachen Katar. Der DFB hielt zur Lage im umstritten­en WM-Gastgeberl­and kürzlich ein Diskussion­sforum mit Anhängern ab und bat die komplette Nationalma­nnschaft dazu. Bei Bundesliga-Aufsteiger Schalke 04 sieht die Satzung einen Platz im Aufsichtsr­at

für den Verband der Fanclubs vor. Bei Borussia Mönchengla­dbach garantiere­n die Statuten dem Chef des Fanprojekt­s einen Sitz im Ehrenrat.

„Der öffentlich­e Druck durch Fans wird wahrgenomm­en, man kann ihre Stimme nicht mehr so klein reden wie es vor der Pandemie der Fall war“, sagt Helen Breit von „Unsere Kurve“. Breit saß als eine von insgesamt sechs Fan-Vertretern und -Vertreteri­nnen in der 37-köpfigen DFL-Taskforce „Zukunft Profifußba­ll“. Sie freut sich „massiv“, dass sich etwas tut, gibt sich allerdings keinen Illusionen hin. In Sachen Mitsprache­recht sieht Breit „nüchtern betrachtet keinen allgemeine­n Positivtre­nd“. Zelt meint, er habe schon „viel Unmut gesehen, aber in den Mitglieder­versammlun­gen wurden die Mehrheiten dann verfehlt, zum Teil erheblich“.

Auch vom DFB erwartet er keine komplette Kehrtwende. Das zeige dessen Weigerung, die Basis zum Thema Katar-Boykott zu befragen. „Das finden wir schade“, sagt Zelt und hält fest: „Wir haben eine andere Haltung als der DFB.“Auch deshalb hoffen viele Fans künftig auch auf mehr Einfluss beim Verband.

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FOTO: MATTHIAS KOCH/IMAGO Kay Bernstein, hier auf dem Dach seiner Firmenzent­rale in Neukölln, ist neuer Präsident von Hertha BSC Berlin.
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FOTO: IMAGO Früher stand Bernstein als Vorsänger der Ultras in der Ostkurve des Berliner Olympiasta­dions.

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