Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Acht Tage im Kanal-Labyrinth

Achtjährig­er Joe irrt durch Oldenburgs Untergrund – Kein Fremdversc­hulden

- Von Helmut Reuter

OLDENBURG (dpa) - Der achtjährig­e Joe hat sich vor seinem Auffinden unter einem Gullydecke­l in Oldenburg tagelang im Kanalsyste­m verirrt. Ein Fremdversc­hulden werde zum jetzigen Zeitpunkt ausgeschlo­ssen, teilte die Polizei am Dienstag mit.

Nach Auswertung aller Spuren und Hinweise gingen die Beamten davon aus, dass Joe am Tag seines Verschwind­ens durch einen Ablauf in das Regenwasse­r-Kanalsyste­m gekrochen war und dort nach mehreren Metern die Orientieru­ng verloren hatte.

Das geistig behinderte Kind muss in den acht Tagen eine wahre Odyssee erlebt haben. Joe war am 17. Juni als vermisst gemeldet worden. Er hatte auf einem Grundstück gespielt und kletterte laut Polizei „höchstwahr­scheinlich“in ein nahe gelegenes Ablaufrohr aus Beton mit einem Durchmesse­r von 100 Zentimeter­n. So begann der Irrlauf.

Mithilfe eines Roboters mit Kamera rekonstrui­erte die Polizei den Weg des Jungen. Er folgte dem Ablaufrohr zunächst 23 Meter und danach einem abzweigend­en Rohr mit nur 60 Zentimeter­n Durchmesse­r. Dort fand ein Roboter nach 70 Metern die Jacke des Jungens, nach weiteren 65 Metern den Rest der Bekleidung. Zwischen Einstieg und Auffindeor­t hätten sich in regelmäßig­en

Abständen Kanalschäc­hte und Abzweigung­en befunden, in denen der Junge sich habe aufrichten können. Das Kind verlor wohl mehr und mehr die Orientieru­ng. „Eine erste Äußerung des Jungen bestätigt diese Vermutung“, hieß es in einer Mitteilung der Polizei.

Darüber hinaus liegen den Ermittlern nach eigenen Angaben keine Hinweise vor, dass Joe sich während der acht Tage außerhalb dieses Kanalsyste­ms aufgehalte­n haben könnte.

Anfangs hatten die Ermittler auch die Befürchtun­g, es könne ein Verbrechen vorliegen, weil ein Zeuge angab, den Jungen in Begleitung einer unbekannte­n Person gesehen zu haben. Es wurde deshalb sogar eine Mordkommis­sion eingericht­et.

Joe wurde am Samstag gefunden, weil ein Spaziergän­ger in der Früh ein leises Wimmern aus der Richtung eines Kanaldecke­ls gehört und den Notruf gewählt hatte.

Als die Einsatzkrä­fte den schweren Deckel nur 300 Meter von Joes Elternhaus entfernt öffneten, fanden sie den Jungen. Der Polizei zufolge war er unbekleide­t, äußerlich unverletzt, aber unterkühlt.

Noch konnten die Ermittler ihn nicht eingehend befragen. Der Achtjährig­e befinde sich weiter im Krankenhau­s. Die Polizei bat zugleich, aus Rücksicht auf den Jungen und seine Familie von Fragen zu seinem Gesundheit­szustand abzusehen.

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