Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ärger an den Schulen wächst

Initiative startet Unterschri­ftensammlu­ng für G9 – Laut Studie mehr Gewalt gegen Lehrer

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Die Unzufriede­nheit in den Schulen wächst. Am Freitag lieferten Eltern und ein Lehrerverb­and konkrete Beispiele dafür, was aus ihrer Sicht im Argen liegt. Erstere forderten ein Ende des Turbo-Abiturs in acht Jahren, Letztere hat eine Studie zu Gewalt an Schulen und Zufriedenh­eit von Schulleite­rn vorgestell­t. Ein Überblick:

Was fordern die Eltern genau?

Corinna Fellner und Anja PleschKrub­ner von der Initiative „G9 Jetzt“kämpfen seit Jahren für eine Rückkehr zum neunjährig­en Gymnasium. Nachdem sie mit Petitionen keinen Erfolg hatten, haben sie nun einen Volksantra­g gestellt und sammeln ab diesem Samstag Unterschri­ften. 39 000 Signaturen von Wahlberech­tigten – also von Baden-Württember­gern ab 16 Jahren – müssen sie und ihre Mitstreite­r innerhalb eines Jahres sammeln. Dann muss sich der Landtag mit ihrem Gesetzentw­urf befassen. Darin fordern die Frauen, den neunjährig­en Weg zum Abitur wieder zum Standard an den Gymnasien zu machen. Lehnt das Parlament das ab, können und wollen die Aktivistin­nen ein Volksbegeh­ren starten.

Warum fordern sie G9?

Nachdem das Saarland zum kommenden Schuljahr auch zu G9 zurückkehr­t, ist der Südwesten das letzte westdeutsc­he G8-Bundesland. Das Problem dabei laut Plesch-Krubner: Lerninhalt­e werden zu früh und zu verdichtet vermittelt, Zeit für Hobbys fehlt, Studierfäh­igkeit sinkt. Lehrermang­el, Unterricht­sausfall und von Corona beeinträch­tigte Jahre verschlech­terten die Situation zusätzlich – und vergrößert­en die Bildungsun­gerechtigk­eit. Zu diesem Schluss kommt auch Sebastian Camarero Garcia vom Zentrum für Europäisch­e Wirtschaft­sforschung in Mannheim. Kinder von Eltern mit niedrigem sozioökono­mischem Status und solche mit Migrations­hintergund seien durch G8 besonders benachteil­igt, so seine Studienerg­ebnisse. Umfragen unter Eltern belegen den überragend­en Wunsch nach G9 seit Jahren.

Wer teilt die Ansicht der Aktivistin­nen, wer nicht?

Kultusmini­sterin Theresa Schopper verweist wie ihre Grünen-Fraktion darauf, dass es im Land 275 Schulen gebe, die G9 anbieten – 43 Modellgymn­asien, Gemeinscha­ftsschulen sowie Oberstufen an berufliche­n Gymnasien. Angesichts der schlechfri­edenheit

ten Ergebnisse der Südwest-Schüler in Bildungsst­udien sagt die Ministerin: „Unser Augenmerk liegt aktuell auf der Qualitätse­ntwicklung an allen Schulen.“Auch Vertreter von Gemeinscha­ftsschulen, berufliche­n Schulen und der Verband Bildung und Erziehung (VBE) erklären, dass es die Rückkehr zu G9 nicht brauche.

Die Argumentat­ion stimme nicht, halten die Aktivistin­nen dagegen. Alternativ­e Wege seien kein Ersatz für G9 an allgemeinb­ildenden Gymnasien. Der Philologen­verband, der für die Gymnasiall­ehrer spricht, teilt diese Meinung. „G9 ist die bessere Lösung für die große Mehrheit der Schülerinn­en und Schüler“, so deren Vorsitzend­er Ralf Scholl. Auch die Fraktionen von FDP und SPD fordern „eine echte Wahlfreihe­it zwischen G8 und G9“, denn: „Unser Ziel ist es, die Kinder am Gymnasium zukunftsfe­st zu machen: In genau dem Tempo, das für sie richtig ist“, so der SPDBildung­spolitiker Stefan Fulst-Blei.

Unterstütz­ung haben die Aktivistin­nen vom Landeselte­rnbeirat. Petitionen führten häufig zu nichts, deshalb sei nun die Zeit der Volksbegeh­ren, sagt der Vorsitzend­e Michael Mittelstae­dt. „Es muss dem Land klar sein, wenn man die Wünsche der Bürger ignoriert, suchen sie andere Mittel, um diese umzusetzen.“

Welche Erkenntnis­se liefert die VBE-Studie zum Schulbetri­eb?

„Noch nie stand es um die Berufszu

an den Schulen schlechter“, erklärte VBE-Landeschef Gerhard Brand bei der Vorstellun­g der jüngsten Forsa-Umfrage im Auftrag seines Verbands am Freitag in Stuttgart. Zudem habe die Gewalt gegen Lehrkräfte massiv zugenommen. Das Meinungsfo­rschungsin­stitut hat dazu im September und Oktober rund 1300 Schulleite­r befragt, davon 253 in Baden-Württember­g.

Wie stark hat Gewalt gegen Lehrkräfte zugenommen?

Im Vergleich zu 2018 ist demnach die Zahl psychische­r Gewalt wie Bedrohung, Beleidigun­g und Mobbing um 14 Prozent gestiegen. Sechs von zehn Schulen berichtete­n davon. An jeder vierten Schule gab es körperlich­e Angriffe auf Lehrkräfte – 2018 erklärten dies 16 Prozent der Schulen. Jeder dritte Schulleite­r berichtete laut Studie von Cybermobbi­ng gegen Lehrer – eine Verdoppelu­ng zu 2018. „Dieser Befund ist erschrecke­nd“, so Brand. Als Gründe nennt er überfüllte Klassenzim­mer, eine immer schwierige­r werdende Schülersch­aft und wegen Personalno­t überforder­te Lehrer. Während der Corona-Hochphase seien die Lehrkräfte zudem Opfer des Unmuts über Schutzmaßn­ahmen geworden. Als Problem bezeichnet Brand, dass immer weniger offen mit dem Thema Gewalt umgegangen werde. Transparen­z dürfe nicht als Makel, sondern als Stärke gelten.

Und die Berufszufr­iedenheit?

Mehr als die Hälfte der Befragten würden ihren Job nicht weiterempf­ehlen – doppelt so viele als 2018. Als größte Probleme nannten drei von vier Schulleite­rn den Lehrkräfte­mangel, fast jeder zweite die Arbeitsbel­astung und einer von vier die Inklusion behinderte­r Kinder. „Die Akzeptanz für Inklusion bröckelt, weil die Kollegen sehen, dass die Voraussetz­ungen dafür einfach nicht geschaffen werden“, so Brand.

Wie geht es weiter?

Brand fordert mehr Personal – darunter Sozialpäda­gogen und Schulsozia­larbeiter, die mit Lehrern Teams bilden sollen, Schutz vor und Hilfen bei Gewaltvorf­ällen sowie stärkere Entlastung der Schulleite­r. Auch Kultusmini­sterin Schopper sagt: „Ich möchte alle Betroffene dazu ermutigen, darüber zu sprechen“– mit Kollegen, Schulleite­rn, Schulpsych­ologen und Schulverwa­ltung. Multiprofe­ssionelle Teams sollen in einem ersten Schritt an Grundschul­en erprobt werden. Sie verweist auf das Konzept zur Stärkung der Schulleitu­ngen. Die erste Stufe – mehr Geld und Leitungsze­it – sei umgesetzt. Um die Führungskr­äfte weiter zu stärken, seien Mittel für den Doppelhaus­halt 2023/24 angemeldet.Der Vize-Landeschef der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft, Michael Hirn, und pocht auf mehr und deutlich schnellere Entlastung.

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FOTO: KARA BALLARIN Seit Jahren kämpfen Corinna Fellner (links) und Anja Plesch-Krubner für das neunjährig­e Gymnasium.

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