Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Zwischen Rezession und Börsenhausse
Die Bärenmarktrally setzt sich fort – LBBW sieht eine globale Rezession heraufziehen
Da soll man als Privatanleger noch durchblicken! So scheint sich einerseits eine globale Wirtschaftskrise in Form einer veritablen Stagflation aufzubauen, während sich andererseits die Aktienmärkte auf Erholungskurs befinden. Dabei wird doch gerade der Börse nachgesagt, dort werde die Zukunft gehandelt. Wie lässt sich also dieser Widerspruch erklären?
Antwort: Man muss alles differenzierter sehen. Tatsächlich hat der Deutsche Aktienindex Dax die Verluste vom September weggesteckt, während die Industrie einen überraschenden Zuwachs von 0,7 Prozent verbuchen konnte. „Es ist ein gutes Zeichen, dass sich die Industrie in ihrer Gesamtheit auch unter so schwierigen Rahmenbedingungen noch relativ stabil zeigt“, sagt dazu Rolf Schäffer vom Research der LBBW. Allerdings hat die Produktion in den energieintensiven Branchen um 0,9 Prozent zum Vormonat und um 9,7 Prozent zum Vorjahresmonat abgenommen – weshalb Skeptiker zur Vorsicht raten. „Wir bleiben skeptisch und erwarten insbesondere für das erste Quartal 2023 neue Rückschläge“, sagt Schäffer mit Blick auf die Unternehmensgewinne, die bei einer möglichen Rezession noch deutlich nach unten korrigiert werden dürften. Des Weiteren würden die Zentralbanken nicht umhinkommen, die Leitzinsen in den kommenden Sitzungen weiter deutlich anzuheben. „Beides sind Belastungsfaktoren für den Aktienmarkt“, so Schäffer.
Vor diesem Hintergrund ist Moritz Kraemer überzeugt, dass eine Weltrezession heraufzieht. So erwartet der Chefvolkswirt der LBBW weniger Wachstum, mehr Inflation, höhere Zinsen, im Trend niedrigere Aktienkurse und ein gegenüber dem
„Greenback" alles in allem schwacher Euro. „Unsere pessimistischen Prognosen werden leider mehr und mehr Realität“, sagt Kraemer. Zwar gesteht der Chefvolkswirt zu, dass die Aktienmärkte zuletzt Stabilisierungstendenzen gezeigt hätten. „Doch wir trauen dem Braten nicht“, macht Kraemer klar. Die Verlustrisiken seien weiter beträchtlich, Investoren sollten auch in der kommenden Zeit selektiv zu Werke gehen. Bewahrheitet sich die Prognose der LBBW, würde sich der aktuelle Auftrieb an den Börsen zur Bärenmarktrally entwickeln. Darunter versteht man eine Situation, bei der sich der Aktienmarkt kurzfristig vom negativen Bärenmarkt abkoppelt und die Kurse wieder stark in die Höhe treiben. Genauso schnell allerdings kann sich der Höhenflug als Strohfeuer entpuppen.
Nicht ohne Optimismus beurteilt indessen die Deutsche Bank den Markt, indem sie eine eher seltene Outperformance europäischer Leitindizes gegenüber unter Druck stehenden US-Aktien feststellt. Seit Ende September bis zur letzten Wochenmitte hat der Euro Stoxx50 mehr als elf Prozent zugelegt – der S&P 500 stieg nur um vier Prozent, während der Nasdaq-100 sogar um zwei Prozent nachgab. Diese Entwicklung begründet der Chefvolkswirt des Instituts, Ulrich Stephan, mit abnehmenden Sorgen vor einer tiefen Rezession in Europa aufgrund von Meldungen über volle Gasspeicher. Hinzu kommen Spekulationen über Lockerungen der Corona-Auflagen im wichtigen Absatzmarkt China sowie eine Berichtssaison der Unternehmen, die in Europa weniger negative Nachrichten gebracht hat als in den USA.
Stephan kann sich sogar vorstellen, dass sich europäische Aktien auch 2023 besser entwickeln werden als US-Titel. „Sie sind deutlich günstiger
bewertet und sollten wegen ihrer größtenteils konjunktursensitiven Geschäftsmodelle stärker von einer Erholung der Weltwirtschaft – die ich gegen Ende nächsten Jahres erwarte – profitieren“, sagt der Experte. Eine Rezession schließt er damit nicht aus, vielmehr beschreibt Stephan den Blick über die Wirtschaftsflaute hinaus, wenn die Unternehmensgewinne wieder sprudeln – und die Kurse steigen mögen. Wohl dem, der dann schon investiert ist! Dass inzwischen nicht mehr die Pandemie, sondern die Energieknappheit zum Hauptbremser der Wirtschaft geworden ist, spricht eher für eine Rezession. Schließlich benötigt Deutschland aufgrund seiner hohen Industrialisierung auch einen höheren Energieeinsatz.
Was also ist zu tun? „Um die Resilienz der Wirtschaft zu stärken, benötigen wir eine sichere Energieversorgung“, sagt LBBW-Volkswirt Kraemer. Und: „Ein rascherer Ausbau regenerativer Stromquellen ist dabei ein Muss.“