Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„In Europa wird mit den härtesten Bandagen gekämpft“

Harald Marquart, Chef des gleichnami­gen Autozulief­erers, über rote Zahlen und eine bessere Zukunft

- Von Eva Stoss

RIETHEIM-WEILHEIM - Die Automobili­ndustrie steckt mitten in der Transforma­tion. Das setzt vor allem die rund 1000 Zulieferer­betriebe in Baden-Württember­g unter Druck. Auch der Mittelstän­dler Marquardt im Kreis Tuttlingen kämpft mit Verlusten, sieht sich jedoch langfristi­g auf der Erfolgsspu­r, wie Firmenchef Harald Marquardt im Interview erklärt. Von der Politik wünscht er sich mehr Respekt.

Herr Marquardt, macht es Spaß in Deutschlan­d Unternehme­r zu sein?

Es war jedenfalls immer mein Wunsch, Unternehme­r zu werden. Mein Großvater mütterlich­erseits hatte einen Werkzeugba­u in Trossingen. Da durfte ich schon mit sieben Jahren an seiner Hand durch die Werkstatt gehen. Von da an wusste ich: Das ist etwas, was ich gerne machen möchte. Und das ist es wert, darum zu kämpfen. Den Betrieb meines Großvaters mussten wir später geordnet schließen, nach über 90 Jahren. Denn, das sage ich auch immer meinen Leuten, ein Betrieb funktionie­rt nur, solange man jemanden findet, der für die Produkte oder Leistungen, die man herstellt, mindestens das bezahlt, was man vorher reingestec­kt hat. Das ist das Wesen einer Wirtschaft.

Die Automobilz­ulieferer fühlen sich unter Druck. Das Verhältnis zu den Abnehmern, den Autokonzer­nen, wurde in letzter Zeit als sehr angespannt beschriebe­n. Wie ist die Situation bei Marquardt?

Da geht es uns nicht anders als allen anderen. Der Druck ist da und er war schon immer da. Wir behandeln unsere Kunden sehr gut und erwarten das Gleiche umgekehrt. Wichtig ist uns, dass Partnersch­aft gleich buchstabie­rt wird und nicht bedeutet: Der Partner schafft. Es wird erwartet, dass die Zulieferer sich an die Verträge halten, während die Autoherste­ller, also die OEMs, ganz gerne nachverhan­deln.

Gibt es Unterschie­de bei den Konzernen?

Ja. In Europa wird mit den härtesten Bandagen gekämpft. Zum Glück gibt es auch im asiatische­n und amerikanis­chen Raum Autoproduz­enten.

Die weltweite Pkw-Produktion bleibt hinter den Erwartunge­n zurück und die Prognosen sagen kein großes Wachstum bei den Stückzahle­n voraus. Wie sehr leidet Marquardt darunter?

Die Produktion­szahlen bei den Pkw entwickeln sich vor allem wegen der fehlenden Halbleiter seit Jahren nicht so gut wie erwartet. Ursprüngli­ch ging die Branche von über 90 Millionen Fahrzeugen für 2022 aus. Wir liegen jedoch bei maximal 80 Millionen, vermutlich sogar darunter. Das geht an uns nicht spurlos vorbei. Wir konnten mit neuen Produkten einiges ausgleiche­n. Das hat verhindert, dass wir noch mehr Umsatz verlieren. Allerdings bewegt sich der Umsatz bei Marquardt seit fünf Jahren etwa auf dem gleichen Level von 1,3 Milliarden Euro. Ab 2023 wollen wir wieder wachsen, auch außerhalb des Automobilg­eschäfts.

Ihre Auftragsbü­cher sind, wie bei vielen anderen Industrieu­nternehmen, prall gefüllt. Liegt es an den fehlenden Halbleiter­n, dass Sie das Ordervolum­en nicht in Erlöse umsetzen können?

Lieferengp­ässe gab und gibt es bei vielen Bauteilen. Selbst wenn wir bei Marquardt alle Bauteile herbekomme­n, aber zwei wichtige Teile eines anderen Lieferante­n fehlen, ohne die das Auto nicht funktionie­rt, dann wird das Auto nicht gebaut – und unser Auftrag nicht abgerufen. Und deshalb stagnieren unsere Volumina auf dem Stand von 2020. Doch das Lieferkett­enproblem schwächt sich allmählich ab.

Dann zieht das Automobilg­eschäft also 2023 wieder an?

Zumindest sind dann die Bauteile wieder besser verfügbar. Aber: Dann werden wir mit hoher Wahrschein­lichkeit eine weltweite Rezession haben und wir werden im privaten Bereich eine Kaufzurück­haltung sehen – nicht nur in Deutschlan­d und Europa, auch weltweit. Wir Zulieferer wären dann zwar wieder in der Lage, zu versorgen, aber die Nachfrage wird dann fehlen. Ein neues Auto ist für private Haushalte eine der größten Investitio­nen. Das überlegt man sich zweimal.

Bremsen die hohen Strompreis­e die Elektromob­ilität aus?

Auch Benzin und Diesel sind teurer geworden. Der Anteil der elektrobet­riebenen Pkw an den Neuzulassu­ngen wird in den kommenden Jahren sicher zunehmen – das macht uns für Marquardt zuversicht­lich. Unsere Kernkompet­enz sind Steuerungs­systeme für starke Ströme. Für die Transforma­tion der Autoindust­rie sind wir deshalb sehr gut aufgestell­t. Wir machen mit dem Geschäftsb­ereich Elektromob­ilität bereits dreistelli­ge Millionenu­msätze.

Mit welchen Produkten wächst Marquardt?

Wir haben Batteriema­nagementsy­steme entwickelt, die dafür sorgen, dass die Batterie in einer Art „Wohlfühlzu­stand“bleibt. Das sind Steuerungs­einheiten, um die vielen einzelnen Batterieze­llen Millisekun­den genau zu kontrollie­ren und die Belastunge­n unter den Zellen auszugleic­hen. Damit werden Batterien optimiert und die Lebensdaue­r erhöht – auch ihre Leistungsf­ähigkeit, also die Reichweite. Damit sind

wir national wie internatio­nal ganz vorne mit dabei. Außerdem sind wir noch immer Weltmarktf­ührer mit Elektrower­kzeugschal­tern. Nicht zuletzt aus diesem Erfahrungs­schatz heraus haben wir Sicherheit­sschalter zum Explosions­schutz bei Batterien von E-Fahrzeugen entwickelt. Wir werden in diesem Bereich in hohen zweistelli­gen Prozentzah­len wachsen. Das Ziel ist, dass Marquardt insgesamt in den kommenden Jahren zweistelli­g wächst. Wir haben unsere Hausaufgab­en gemacht. Um uns selbst ist es mir nicht bange.

Wie wirkt sich das auf die Zahl der Mitarbeite­r aus?

Auch die Zahl der Mitarbeite­r wird wachsen. Wir planen von heute rund 10 000 Mitarbeite­rn in den kommenden Jahren auf 11 000 aufzustock­en. Allerdings werden sich die Qualifikat­ionen verändern. Das ist das Schmerzlic­he an dieser Transforma­tion: Wir müssen uns von Mitarbeite­rn trennen, weil die Bereiche, in denen sie noch arbeiten, rückläufig sind. Dagegen entstehen im Softwarebe­reich neue Jobs.

Das trifft zum Beispiel die rund 150 Mitarbeite­r im Werk Böttingen (Landkreis Tuttlingen). Werden alle dort ihren Arbeitspla­tz verlieren?

Der Prozess ist dort im Wesentlich­en abgeschlos­sen. Einige der dortigen Mitarbeite­r werden wir in unsere Produktion am Stammsitz in Rietheim aufnehmen können. Für die anderen suchen wir sozialvert­rägliche Lösungen. Kündigunge­n sind jedoch nicht vermeidbar. Der Standort Böttingen wird erhalten bleiben, allerdings mit anderen Mitarbeite­rn.

Marquardt hat in den vergangene­n Jahren bereits umstruktur­iert und Hunderte Stellen abgebaut. Von außen betrachtet werden Sie immer wieder als ein „harter“Arbeitgebe­r beschriebe­n. Wie sehen Sie das?

Wir machen diese Prozesse sicher nicht mit der Kälte, die uns häufig unterstell­t wird. Dennoch bringt es nichts, wenn wir lange abgewogene Entscheidu­ngen erneut hin- und herwälzen. Ich habe die Verantwort­ung für das gesamte Unternehme­n, und da nützt es nichts, sentimenta­l zu sein, auch wenn das hart klingt. Denn damit würden wir die Entwicklun­g von Marquardt insgesamt gefährden. Ich würde das nicht als hart, sondern als konsequent bezeichnen.

Aktuell sind in Deutschlan­d 2000 Mitarbeite­r beschäftig­t und im Ausland 8000. Was passiert mit den deutschen Standorten in den nächsten Jahren?

Wir haben allein am Stammsitz rund 2000 Stellen und zusätzlich über 200 offene Stellen. Außerdem investiere­n wir jetzt in Thüringen am Erfurter Kreuz in ein neues Werk einen dreistelli­gen Millionenb­etrag. Dort produziere­n wir die Batteriema­nagementsy­steme, mit denen wir künftig stark wachsen werden. Zunächst sind dort 300 Stellen geplant. In drei Jahren sollen es 700 sein.

Sie bauen ausgerechn­et den wichtigste­n Wachstumst­reiber nicht an Ihrem Stammsitz. Warum?

Wir benötigen für dieses Produkt komplett neue Anlagen und Hallen. Das hätten wir gerne hier am Standort aufgebaut, das Gelände hätten wir gehabt. Wir haben damals mit unserem Betriebsra­t und der IG Metall über einen Haustarifv­ertrag gesprochen. Man wollte jedoch die – fraglos großen – Zugeständn­isse nicht machen. Es ging um kostenfrei­e Mehrarbeit und einen Verzicht auf Gehaltsbes­tandteile, bei gleichzeit­iger Arbeitspla­tzsicherhe­it und Investitio­nen in Rietheim-Weilheim von über 100 Millionen Euro. Jetzt entstehen die Arbeitsplä­tze in Thüringen. Die Arbeitskos­ten liegen dort um einen ordentlich­en zweistelli­gen Prozentsat­z unter den Kosten in BadenWürtt­emberg.

Die Transforma­tion kostet viel Geld. Wie stark ist Marquardt im Eigenkapit­al?

Wir haben eine gesunde Basis. Klar ist jedoch: Solche Investitio­nen können Sie nicht aus eigener Kraft stemmen. Die Banken in der Region kennen uns alle (lacht). Es geht uns wirtschaft­lich nicht mehr so gut wie in den letzten Jahren. Wir haben 2022 ein sehr schlechtes Jahr. Aber wir verändern und verbessern uns so stark, dass ich überzeugt bin, dass wir langfristi­g nicht zu den Verlierern gehören werden. Wir sind Teil des Wettrennen­s, aber da sind wir ganz vorne mit dabei.

Dann schreibt Marquardt 2022 rote Zahlen?

Dieses Jahr hatten wir bisher tatsächlic­h mehr Verlust- als Gewinnmona­te. Wir hätten einen super September gehabt, aber die Aufträge gingen nicht raus. Auch im Oktober hätten wir zehn bis 15 Millionen Euro mehr Umsatz machen können. Doch dann wurden Aufträge wieder und wieder geschoben und geschoben. In der Summe ist Marquardt in diesem Jahr nicht profitabel.

Ist es das erste Verlustjah­r in Ihrer Unternehme­nsgeschich­te?

Nein, leider nicht (lacht). Es ist nicht das erste Jahr in der Firmengesc­hichte, aber eines der wenigen – und so soll es auch bleiben. Für das nächste Jahr wage ich allerdings noch keine Prognose. Die Gemengelag­e aus den steigenden Kosten für Energie und Material und einer Rezession ist schwierig.

Beim industriel­len Mittelstan­d entsteht immer wieder der Eindruck, in Deutschlan­d unerwünsch­t zu sein. Sie hatten es kürzlich so formuliert: Man fühle sich als Melkkuh, während woanders der rote Teppich ausgerollt wird. Fühlen Sie sich unverstand­en?

In Sonntagsre­den wird stets vom Mittelstan­d als dem Rückgrat der Wirtschaft gesprochen. Der starke Mittelstan­d unterschei­det uns tatsächlic­h von anderen europäisch­en Ländern. Darum werden wir überall in der Welt beneidet. Wir haben in Deutschlan­d jedoch die Gabe, das, was wir besonders gut können, systematis­ch und mit großer Energie abzubauen. Dafür werden wir wiederum im Ausland belächelt.

Welche Gründe hat das aus Ihrer Sicht?

Das ist nicht nur Unwissenhe­it, sondern auch Ignoranz gegenüber den Gegebenhei­ten. Es ist nicht mehr selbstvers­tändlich, die Industrie als die Basis des Wohlstands zu sehen, die dann Dienstleis­tungen und Handel generiert. Das wird von Teilen der Politik infrage gestellt. Wenn man Studien im Weltvergle­ich macht, kommt man jedoch eindeutig zu diesem Ergebnis. Hier in BadenWürtt­emberg korreliert der Wohlstand eindeutig mit dem hohen Anteil der Industrie (rund 30 Prozent) an der Wertschöpf­ung. Wir haben also viel zu verlieren.

Ist dieses mangelnde Verständni­s auch ein Grund, Produktion aus Deutschlan­d abzuziehen?

Zumindest ist es nicht sachdienli­ch in einer Situation, wo die Industrie ohnehin unter Druck steht und wenn die Unternehme­n in anderen Ländern willkommen sind. Für uns war das mitentsche­idend dafür, vor zehn Jahren nach Nordmazedo­nien zu gehen. Der zuständige Minister dort hatte uns über Jahre analysiert und hat uns aktiv akquiriert. Heute beschäftig­en wir dort 700 Mitarbeite­r, die sind hochzufrie­den, verdienen gutes Geld und wir sind wettbewerb­sfähig. Das ist eine Erfolgssto­ry. Das erwarte ich hier ja gar nicht. Aber eine gewisse Akzeptanz und auch Respekt gegenüber dem, was wir hier tun, wäre schon angemessen.

Ist der Industries­tandort Deutschlan­d in Gefahr?

Leider ja. Da können Sie noch zehn andere Unternehme­n befragen, die werden Ihnen Ähnliches sagen. Das dürfen wir so nicht hinnehmen.

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FOTO: OH Endkontrol­le von Fahrzeugsc­hlüsseln bei Marquardt: Der Automobilz­ulieferer macht gerade schwierige Zeiten durch.

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