Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Seelsorge im Schatten des Grauens
Manfred Deselaers predigt im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz die Macht der Liebe – Der Polnische Rat der Christen und Juden zeichnet den deutschen Pfarrer als „Mensch der Versöhnung“aus
Der Kontrast könnte größer nicht sein: Bei schönstem Herbstwetter schlendert der Besucher durch das Zentrum der sympathisch wirkenden, polnischen Kleinstadt Oswiecim. Die Häuser rund um den Marktplatz leuchten in ockergelben Farben, einige Cafés laden zum Apérol ein. Etwa 38 000 Menschen leben hier, die chemische Industrie bietet Arbeitsplätze. Offensichtlicher Wohlstand.
Kaum zu glauben: dass die Stadt Oswiecim auf Deutsch Auschwitz heißt? Dass sich der Name Auschwitz als Synonym für den Holocaust und Inbegriff des Bösen weltweit ins Bewusstsein eingebrannt hat? Dass vor 80 Jahren in Auschwitz, einem damals bereits seit zwei Jahren bestehenden Konzentrationslager, in dem bis dahin vor allem Polen inhaftiert waren, die massenhafte Vernichtung der europäischen Juden begann? In dem von Nazi-Deutschland im besetzten Polen errichteten Lager wurden im Zweiten Weltkrieg mehr als eine Million Menschen, zumeist Juden, von Deutschen umgebracht.
„Sie dürfen Oswiecim nicht mit Auschwitz gleichsetzen“, mahnt Jan Marian Olbrycht, der seit 2004 Abgeordneter im Europäischen Parlament ist, „die Polen in Oswiecim leben ihr ganz normales Leben, wollen auch nicht ständig mit Fragen von Schuld und Sühne, Holocaust und Shoa konfrontiert werden.“Olbrycht, Mitglied der konservativen Fraktion der Europäischen Volkspartei, ergänzt: „Einer, der für Versöhnung, Dialog, Gebet, Gedenken und Erklären steht, ist der deutsche Pfarrer Manfred Deselaers. Besuchen Sie ihn!“
Der Geistliche, 67 Jahre alt, wohnt im Pfarrhaus der Stadtkirche, in Sichtweite zum Marktplatz. Seit 32 Jahren lebt er in Oswiecim arbeitet im Zentrum für Dialog und Gebet in der Nähe der Gedenkstätte Auschwitz. „Mich hat das Thema Holocaust gepackt, als ich als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen in Israel gearbeitet habe, seitdem hat es mich nicht mehr losgelassen.“
1955 in Düsseldorf geboren, studiert Deselaers zunächst Jura, anschließend Theologie. 1983 wird er in Aachen zum Priester geweiht und arbeitet einige Jahre als Kaplan im Rheinland. Hier beginnt er, sich in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit zu engagieren: Das Thema Holocaust holt ihn ein. 1989 entschließt er sich, seinen Bischof um Freistellung zu bitten: Im Rahmen der deutsch-polnischen Versöhnung geht er nach Polen und lernt zunächst an der katholischen Universität Lublin die polnische Sprache. Wenig später wechselt er nach Oswiecim. Die Arbeit in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers, die Dissertation über den KZ-Kommandanten Rudolf Höß, Lehraufträge an der Theologischen Akademie in Krakau folgen. Sein Thema: „Theologie nach Auschwitz“. Seit 1995 dann die Lebensaufgabe: Seelsorger im Zentrum für Dialog und Gebet, direkt am ehemaligen Lager Auschwitz. Ein Leben im Schatten des Schriftzuges „Arbeit macht frei“, den die Deutschen über dem Eingangstor zum Lager angebracht haben.
Wie gelingt dieses Leben? Der Theologe Deselaers erklärt: „Das Zeugnis der Kirche an der Gedenkstätte Auschwitz ist vor allem ein Glaubenszeugnis: Die Macht des Bösen und des Todes hat nicht das letzte Wort. Das letzte Wort hat Gott, der Liebe ist.“
2,5 Millionen Menschen pro Jahr besuchen die Gedenkstätten: das sogenannte Stammlager und das drei Kilometer entfernte Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mit den Gaskammern. Die Besucher erhalten in mehreren Gebäuden auf dem Lagergelände Informationen über das Leben im Lager und über die Opfer – zu sehen sind auch Berge von Koffern, Brillen und anderen Besitztümern der ermordeten Juden. Die Besucher schauen die Aufnahmedokumente an, sehen gefälschte Totenscheine, blicken auf Bestellformulare für das Giftgas Zyklon B. Vor allem die 80 000 Paar Schuhe, die gezeigt werden, könnten die Geschichte ihrer
Besitzer erzählen. Oder Schüsseln und Töpfe: Habseligkeiten von Menschen, denen die Nazis Hoffnung auf ein neues Leben machten und sie dann in den Tod schickten. „Auschwitz steht als Symbol des Bösen an sich, als Symbol einer Welt ohne Gott, als Symbol für entartete Religion, als Symbol für die Folgen von Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Faschismus, politischem Machtmissbrauch“, weitet Deselaers die Perspektive.
Der Gedanke, dass Besucher nach einem Rundgang mit ihren Eindrücken und Gefühlen nicht alleine gelassen werden sollten und dass hier ein Ort der Besinnung und des Dialoges nötig ist, konnte erst in den 1990er-Jahren verwirklicht werden. 1992 wurde das Zentrum für Dialog und Gebet eröffnet. Das moderne Gebäude bietet daher Raum und Platz, Deselaers bietet Gespräch und Gebet, um die Gedanken, die Eindrücke, die Tränen, die Trauer, die Wut und die Ohnmacht zu verarbeiten und zu besprechen. Oder auch nur zu schweigen. „Manchmal bin ich auch einfach nur da. Es genügt schon, wenn man einfach nur da ist.“
Im Zentrum für Dialog und Gebet finden bis zu 150 Gäste Aufnahme. Deselaers berichtet: „Die meisten Gruppen sind Schulklassen, sie kommen aus Deutschland. Wir empfangen aber auch Pilger, die aus Frankreich beispielsweise kommen und auf den Spuren von Papst Johannes Paul II. unterwegs sind, oder interreligiöse Gruppen.“Die Besucher bleiben durchschnittlich drei Tage in dem Zentrum, dann fahren sie weiter, nach Krakau,
Breslau, in den Wallfahrtsort Tschenstochau oder in die polnische Hauptstadt Warschau.
Deselaers wird mit den immer gleichen Fragen konfrontiert. Seit 32 Jahren. Zum Beispiel: Wo war Gott? Wie konnte Gott dieses Verbrechen zulassen? Warum haben Deutsche, die allermeisten von ihnen getaufte Christen, diese Verbrechen begehen können? „Ja, seit 30 Jahren beschäftige ich mich mit den gleichen Fragen, aber das Thema ist und bleibt dringend.“
Beobachter, die Deselaers kennen, bestätigen, dass hier ein Geistlicher seine zweite, das Priesteramt ergänzende und erweiternde Berufung gefunden hat. Denn Deselaers erklärt: „Gott ist die Liebe. Am Rande von Auschwitz ist das weniger eine Wahrheit, die gesagt werden muss, als eine, die gelebt werden will. Das beginnt mit dem Ernstnehmen der Opfer, und das heißt für die Kirche auch Gewissenserforschung. Es bedeutet positiv, den Glauben an Gott und den Menschen
,nach Auschwitz’ nicht zu verlieren. Weil Gott jeden Menschen liebt, wollen wir das durch unseren Respekt bezeugen.“
Fast immer geht es um die Frage: Was kann ich in Auschwitz lernen? „Das ist immer die Hauptfrage“, berichtet Deselaers, „wenn man es platt nimmt, dann heißt die Antwort: Nie wieder.“Aber dabei dürfe es nicht bleiben: „Vor allen lernt man in Auschwitz die Achtung vor der Würde des Menschen. Man lernt hier das Zusammenleben auch in Verschiedenheit. Man lernt, welche Werte wichtig sind. Und: Hitler soll nicht das letzte Wort haben.“
Bei Diskussionen mit Schulklassen bemerkt Deselaers, wie sich im Laufe der Jahre Fragestellungen verändern: „Vor 30 Jahren, da ging es stark um die Täter. Und meine These: Ja, Gott war auch bei den Tätern. Aber sie haben die Gabe der Liebe abgelehnt.“Heute sei es anders: „Die junge Generation hat heute keinen direkten Bezug mehr zur Generation der Täter. Junge Leute fragen auch nicht mehr nach Gott, weil Gott heute keine Rolle mehr für sie spielt. Ich werde gefragt: Wie geht es dir, dem Priester Manfred?“
Dem „Priester Manfred“geht es ganz offensichtlich gut. Seit vielen Jahren ist er offiziell Auslandsseelsorger der Deutschen Bischofskonferenz, für die die seelsorgliche Präsenz der katholischen Kirche am Rande von Auschwitz große Bedeutung hat. „Das Glaubenszeugnis hat am Rande des Ortes, der der Verachtung und Vernichtung von Menschen diente, eine große Strahlkraft.“Doch dabei bleibt es nicht: „Auschwitz ist mein Auftrag. Ich baue hier Vertrauen auf. Ein Netzwerk.“Auch zu ehemaligen Auschwitz-Überlebenden: „Ehemalige Gefangene sagten mir, dass sie nicht erwarteten, dass ich die ganze Welt verändere und alle Fehler der Menschheit aus der Vergangenheit berichtige. Es reicht, so sagen sie, die Menschen, die ich auf dem Weg treffen werde, einfach gut und sensibel zu behandeln.“
Zurück zum Europa-Politiker Jan Marian Olbrycht, der den Bogen schlägt von Deselaers’ Arbeit in der Gedenkstätte zu seiner Arbeit in Polen: „Wissen Sie, dass Deselaers viel in unserem Land unterwegs ist? Dass er in Polen wahrscheinlich bekannter ist als in Deutschland?“Deselaers’ Besuche zur Versöhnung in polnischen Dörfern, die die Nazis niedergebrannt haben, werden im Nachbarland sehr aufmerksam wahrgenommen. Er führt Gespräche mit betagten Polen, die sahen, wie SS-Leute wehrlose Frauen und Kinder erschossen haben. Olbrycht: „Einige HolocaustÜberlebende zählt er zu seinen Freunden.“Im Jahr 2000 bereits wurde er als „Mensch der Versöhnung“des Polnischen Rates der Christen und Juden ausgezeichnet.
Zurück auch auf den Marktplatz von Oswiecim: Im Schaufenster einer Buchhandlung liegt das Buch „Niemiecki ksiadz u progu Auschwitz – Ein deutscher Priester an der Schwelle zu Auschwitz“. Der Interviewband, darin Gespräche mit dem Journalisten Piotr Zyłka, verkauft sich in Polen gut. Ob er in Deutschland erscheint? „Wir sind in Gesprächen mit einem Verlag“, sagt Deselaers, „mir ist wichtig auch in Deutschland zu sagen: Auschwitz ist heute nicht mehr nur ein Ort der Erinnerung an die Macht des Bösen, sondern hier wird auch die Macht der gegenseitigen Achtung, der Versöhnung, der Hoffnung und der Liebe erfahrbar. Das ist auch ein Zeichen der Gegenwart Gottes.“