Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Neue Hoffnung für Zuckerkranke
Die Stammzellen-Technologie könnte für Typ-1-Diabetiker Heilung bringen – Doch dazu müsste das Immunsystem der Patienten überlistet werden
Wenn sein Blutzuckerspiegel abstürzte, fuhr er auch schon mal mit dem Motorrad gegen eine Wand; und weil er als Postbote immer wieder seine Briefe falsch zustellte, riet ihm sein Chef schon zur Frührente. Brian Shelton war mitunter richtig neben der Spur. Aber das passierte nicht etwa wegen irgendeiner Droge, sondern weil er als Typ-1Diabetiker immer wieder Insulin spritzen musste – und in der Folge konnte der Blutzuckerspiegel so weit nach unten sacken, dass seinem Gehirn der Brennstoff ausging.
Doch Anfang dieses Jahres ließ er sich vom Pharmaunternehmen Vertex Pharmaceuticals als Versuchsperson rekrutieren. Dort arbeitet ein Team um den Harvard-Biologen Doug Melton daran, Insulin produzierende Zellen aus embryonalen Stammzellen zu gewinnen – und eine dieser Zelllinien wurde nun testweise in Brians Leber injiziert. Allzu große Hoffnungen hatte man nicht, weil in den vielen Jahren zuvor kein echter Durchbruch erzielt worden war. Doch jetzt ließ er nicht lange auf sich warten: Die implantierten Zellen nahmen umgehend ihre Arbeit auf, und das so effektiv, dass sie nahezu komplett Brians Insulinbedarf deckten. Und das ist bis heute so.
Der mittlerweile 64-Jährige muss zwar noch immunsuppressive Medikamente einnehmen, damit sein Körper die zellulären Fremdlinge nicht abstößt. Doch dafür kann er endlich auf die ständigen, nervtötenden Blutzuckermessungen und Insulinspritzen verzichten, und das empfindet er schlichtweg „als ein komplett neues Leben“. Für Brian steht fest: Er ist geheilt. Doch geht das überhaupt bei einer Erkrankung, die bis dato als unheilbares Schicksal gilt?
Heiko Lickert vom Deutschen Zentrum für Diabetesforschung ist in dieser Hinsicht zumindest nicht pessimistisch. Er forscht zum Potenzial der Stammzellen in der Diabetestherapie – und er hält Brians Geschichte
„schon für einen sehr eindrucksvollen Machbarkeitsbeweis“. Auch wenn man nicht von einem einzigen Fall auf eine generelle Wirksamkeit der Therapie schließen sollte. „Und der Umstieg von Insulinspritzen auf Immunsuppressiva, die ja viele schwerwiegende Nebenwirkungen haben können, klingt auch nicht gerade nach Heilung“, so Lickert.
Darüber hinaus ist offen, wie lange der Effekt anhält. Bei Brian sind es bislang gerade mal ein paar Monate, wie es bei ihm in fünf oder zehn Jahren aussehen wird, weiß niemand. Was allerdings für eine längere und risikoärmere Wirksamkeit spricht, sind die Erfahrungen, die man bereits von der Inselzellen-Transplantation von einem Menschen zum anderen hat. Sie ist seit Langem bewährt und gilt als ausgesprochen sicher. „Es handelt sich dabei um einen minimalinvasiven Eingriff, bei dem man lediglich ein paar Zellen in die Portalvene der Leber gibt“, erklärt Lickert.
Wie bei allen Transplantationen stehen jedoch zu wenige Spenderorgane zur Verfügung. „Und damit wären wir bei dem Hauptmotiv, weswegen man bei den Inselzellen überhaupt an deren Gewinnung aus pluripotenten Stammzellen arbeitet“, so Lickert. „Es würde das Reservoir an spendenfähigen Inselzellen enorm vergrößern.“Was gerade für die Therapie des grassierenden Typ-1Diabetes, an dem allein in Deutschland rund 350 000 Erwachsene sowie 32 000 Kinder und Jugendliche leiden, ein enormer Fortschritt wäre.
Es wird daher aktuell weltweit fieberhaft dazu geforscht, wie man pluripotente Zellen, aus denen ja, wie schon der Name sagt, alles Mögliche werden kann, dazu „überredet“, sich zu Inselzellen zu mausern, die dann auch noch funktionieren, wenn man sie einem Menschen injiziert hat. Das Problem dabei: Die zugeführten Inselzellen werden vom Immunsystem als Fremdkörper attackiert
– egal, ob sie von einem anderen Menschen oder aus dem Labor stammen. Und das gilt erst recht für das Immunsystem von Typ-1-Diabetikern, deren Erkrankung – im Unterschied zu Diabetes-Typ-2, der wesentlich durch Bewegungsmangel, Übergewicht und falsche Ernährung ausgelöst wird – auf ein fehlgeleitetes Immunsystem zurückgeht, das die körpereigenen Inselzellen zerstört. „Wir haben also bei ihnen zusätzlich zur üblichen Abstoßung von Fremdorganen eine Autoimmunität, durch die sich die Abwehrreaktion gegenüber den injizierten Inselzellen weiter verstärkt“, erläutert Heiko Lickert. Was am Ende bedeutet: Typ-1-Diabetiker sind nach einer Inselzellenspende in besonderem Maße darauf angewiesen, dass man ihr Immunsystem medikamentös herunterfährt – und das erhöht bekanntlich das Risiko für Infektionen und Krebs, was dann wiederum den positiven Effekt auf den Diabetes wieder relativiert.
Es sei denn, die zugeführten Inselzellen werden nicht „nackt“, sondern in einer Art Teebeutel verabreicht, um sie vor den Attacken des Immunsystems zu schützen. Diese Taktik hat das Pharmaunternehmen ViaCyte aus dem kalifornischen San Diego entwickelt. Dazu gilt es jedoch, die
richtige Balance zu finden. Denn einerseits sollen zwar die Inselzellen vor dem Immunsystem geschützt werden, andererseits muss man ihnen aber auch genug Kontakt zum Blutkreislauf lassen, weil sie ja sonst nicht versorgt werden und auch keine Informationen zum Blutzuckerwert bekommen. Das gelingt bisher nur ansatzweise. In einer klinischen Studie präsentierten sich die Inselzellen-Teebeutel zwar als sehr gut verträglich, doch ihr Anteil an der Deckung des Insulinbedarfs bewegte sich gerade mal im zweistelligen Prozentbereich. In einer weiteren Studie perforierte man daher die Beutel mit winzigen Löchern, was dann zwar die Insulinwerte nach oben schraubte, aber doch wieder die Einnahme von immunsuppressiven Medikamenten erforderte.
ViaCyte und Vertex haben daher bereits neue Pfeile im Köcher. Eines ihrer Ziele: die neuen Inselzellen genetisch so zu verändern, dass sie vom Immunsystem nicht erkannt werden. Harvard-Forscher Doug Melton schlägt hier als Orientierung vor, sich bei Krebszellen abzugucken, wie die es immer wieder schaffen, sich am Immunsystem vorbeizuschmuggeln. Eine Therapie also, die sich von einer der tödlichsten Erkrankungen überhaupt inspirieren lässt. Das klingt zunächst befremdlich. Doch bei Typ-1-Diabetes sollte wohl kein Weg unversucht bleiben, denn er grassiert. Bei Kindern steigt hierzulande die Erkrankungsrate jährlich um drei bis vier Prozent. „Als Ursache für diese Entwicklung werden unter anderem Umweltfaktoren sowie Ernährung und Virusinfektionen im Kindesalter diskutiert“, berichtet Lickert. „Aber wir haben das Problem, dass wir bis heute eigentlich nicht das Entstehen von Typ-1-Diabetes wirklich befriedigend erklären können.“Doch das sollte nicht davon abhalten, nach effektiveren Therapien für diese Krankheit zu suchen.
Es handelt sich um einen minimalinvasiven Eingriff, bei dem man ein paar Zellen in die Portalvene der Leber gibt. Heiko Lickert vom Deutschen Zentrum für Diabetesforschung über die Transplantation