Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die „Blackbox“bleibt verschlossen
Im Kressbronner Mordprozess gegen einen 32-jährigen Nigerianer ist das Motiv weiter unklar
- Was treibt einen Menschen dazu, mit einem Messer binnen weniger Minuten auf sieben Mitmenschen einzustechen, mit der Absicht, sie zu töten? Am 26. Juni 2022 soll ein 32-jähriger Mann aus Nigeria in einer Gemeinschaftsunterkunft in Kressbronn genau das getan haben. Ein 40-jähriger Mitbewohner aus Syrien starb an jenem Abend, sechs weitere Frauen und Männer aus Syrien, Iran und Palästina wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. An sechs Verhandlungstagen im Mordprozess am Landgericht Ravensburg haben sich zwar weder Zweifel am Ablauf der Bluttat ergeben, noch daran, dass der Angeklagte dafür verantwortlich ist. Die Frage nach dem Warum aber bleibt unbeantwortet.
Ist der Mann geisteskrank? War er von Wahnvorstellungen getrieben? Leidet er an einer schweren Persönlichkeitsstörung? Oder hat er im Affekt gehandelt? Peter Winckler sieht als psychiatrischer Sachverständiger in diesem Fall für all das keine ausreichenden Hinweise. Was während der Bluttat im Kopf des Angeklagten vorgegangen sei, das sei völlig unklar. Vor Gericht sprach Winckler von einer „Blackbox“. Öffnen kann diese „Blackbox“allein der Angeklagte – wozu er aber auch am sechsten Verhandlungstag nicht bereit war.
Tags zuvor hatten Zeugenaussagen von Landsleuten ihn zwar dazu gebracht, sein beharrliches Schweigen zu brechen. Seine Ausführungen zu mafiösen Strukturen in der Unterkunft in Kressbronn, zu Mitbewohnern, die angeblich Mitglied eines nigerianischen Geheimbunds seien und ihn unter Druck gesetzt hätten, hatten allerdings mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. „Das war relativ wirr“, stellte Richter Veiko Böhm am Dienstag fest.
Nach seiner Festnahme hatte der Angeklagte gegenüber der Polizei zu verstehen gegeben, dass man nur sein Handy auswerten müsse, um zu verstehen, was er getan hat. Der Ermittler, der in diesem Fall alle Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammensetzen sollte, gab nun vor Gericht allerdings – wie zuvor schon der Kollege, der die Auswertung vorgenommen hatte – zu Protokoll, dass man nichts derart Eindeutiges gefunden habe. Viele Puzzleteile wollen nicht so recht zusammenpassen.
Dass der 32-Jährige frustriert war, weil er keine Arbeit hatte und nicht zur Schule durfte, sein Asylantrag kaum Aussicht auf Erfolg hatte, er sich in Deutschland generell schlecht behandelt und auch von seinen Mitbewohnern ausgegrenzt fühlte, dafür gibt es zahlreiche Hinweise. Neben eigenen Aussagen gegenüber dem psychiatrischen Gutachter zum Beispiel auch eine entsprechende Sprachnachricht auf dem Handy. Dass es in den Wochen und Monaten vor dem 26. Juni Meinungsverschiedenheiten mit Mitbewohnern aus dem arabischen Raum gab, ist ebenfalls belegt. Aber waren Hass und Neid auf diese arabischstämmigen Mitbewohner tatsächlich irgendwann so ausgeprägt, dass sie ihn zu seiner Bluttat getrieben haben?
Was auffällt: Die ersten Angriffe richteten sich nicht gegen Mitbewohner, mit denen der Angeklagte schon öfter aneinandergeraten war, sondern gegen Neuankömmlinge. Und sie richteten sich zunächst nicht gegen Männer, sondern gegen Frauen. Ein Zufall? Eine Internetsuche übers Handy vier Stunden vor der Tat weckt Zweifel: Da ging es um die Frage, wie die Bibel zu sexuellen Übergriffen auf Frauen und zu Mord steht. Rund ein halbes Jahr vor der Bluttat soll der Angeklagte zudem eine Mitbewohnerin aus Mazedonien sexuell belästigt haben. Psychiater Peter Winckler geht zumindest davon aus, dass mit dem Frauenbild des 32-Jährigen „irgendwas im Argen liegt“.
Streit hatte der Angeklagte in den Wochen und Monaten vor dem 26. Juni aber auch mit Landsleuten, einmal sogar so heftig, dass er mit einem Messer in der Hand drohte, einen Mitbewohner zu töten – nachdem dieser einen WLAN-Verstärker ausund wieder eingeschaltet hatte, um die Internetverbindung in der Unterkunft zu stabilisieren. Dass der Mann größere Probleme mit Landsleuten hatte, zeigen nicht nur seine eigenen Äußerungen zu Mitbewohnern, die angeblich Mitglied eines nigerianischen Geheimbunds sein und ihn unter Druck gesetzt haben sollen, sondern auch die Feststellung, dass dieses Thema das einzige zu sein scheint, das bei ihm irgendwelche Emotionen auslöst.
Als „frappierend“bezeichnete der psychiatrische Sachverständige, wie emotional unberührt der Angeklagte ansonsten den bisherigen Prozess verfolgt hat. Dass ihn das Geschehen vom Abend des 26. Juni in irgendeiner Art und Weise beschäftigt oder Spuren hinterlassen hat, sei überhaupt nicht zu erkennen. Auffällig sei stattdessen eine ausgeprägte Ichbezogenheit mit sehr einseitiger Realitätswahrnehmung und ein eklatantes Empathiedefizit. Er betrachte sich als Opfer. „Die Opfer, die er selber produziert hat, spielen für ihn keine Rolle“, stellte Peter Winckler fest. Er attestierte dem 32-Jährigen eine „sehr komplexe, vielschichtige Persönlichkeit“, sieht aber keine ausreichenden Indizien für eine schwere Persönlichkeitsstörung – vor allem, weil der Mann über sehr lange Zeiträume völlig unauffällig gewesen sei.
Wie der Gegenentwurf zu ausgeprägter Ichbezogenheit mit eklatantem Empathiedefizit aussehen kann, zeigte am Dienstag vor Gericht eine 31-jährige Frau, die in einem Haus in der Nachbarschaft der Gemeinschaftsunterkunft in Kressbronn lebt. Als sie am Abend des 26. Juni Schreie hörte und vom Balkon aus zwei Frauen mit Kind die Straße entlanglaufen sah, zögerte sie nicht lange. Sie ging raus, holte die Flüchtenden ins Haus, versorgte ihre Wunden und wählte den Notruf. Dann ging sie erneut nach draußen, sah, wie ein blutüberströmter, laut schreiender Mann auf der Straße zusammensackte, eilte zu ihm, schleppte ihn an den Straßenrand, drückte auf die Wunde, um den Blutverlust in Grenzen zu halten – und wartete auf die Rettungskräfte. Was passiert war, erfuhr sie erst später durch Polizisten. Bis zum frühen Morgen war die Frau selbst im Einsatz, half, wo Hilfe benötigt wurde.
Selber gesehen hat sie den mutmaßlichen Täter an jenem Abend nicht, vor Gericht räumte sie aber ein, dass sie – ähnlich wie die Opfer – in den Tagen danach Angst vor dunkelhäutigen Menschen verspürt habe. Das habe sich zwischenzeitlich zwar wieder gelegt, dennoch wirkt das Geschehen von damals noch nach: „Man geht anders durch die Straßen.“Fragen an die Zeugin hatte Staatsanwalt Martin Hengstler nicht, wohl aber eine Anmerkung: „Ihre Zivilcourage beeindruckt mich.“