Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Eine Ritterburg aus dem Untergrund
Die Schwäbische Alb und ihr Vorland Richtung Stuttgart gelten als Hotspot mittelalterlicher Adelssitze. Ausgrabungen haben nun weitere neue Erkenntnisse gebracht.
- „Phänomenal!“So feiert die Archäologin Ute Heuer den Fund. „Für die gesamte Burgenforschung in der Region öffnet sich eine neue Tür“, glaubt sie. Dies klingt nach Sensation, nach bahnbrechenden Erkenntnissen für jene ferne mittelalterliche Epoche, die landläufig wegen einer speziellen Ehrenkultur ihrer gepanzerten Reiterkrieger als Ritterzeit verstanden wird. Wobei der Augenschein am Entdeckungsort für Laien erst einmal ernüchternd ist: irgendwelche freigelegten Mauerfundamente, dazu viel Erde.
Genauso wenig besticht das Drumherum: die Ortsmitte von Jettenburg, einem Dorf mit rund 1200 Einwohnern beim Albtraufs zwischen dem heutigen Industriezentrum Reutlingen und der UniStadt Tübingen. Oberirdisch betrachtet ist noch die kleine St.-Ulrich-Kirche am aufregendsten, obwohl evangelisch schmucklos. Die Ausgräber haben sie ständig vor Augen. Ihr Betätigungsfeld liegt gleich daneben: eine Fläche, auf der vergangenes Jahr zwei Häuser abgerissen wurden. Eine seltene Chance für Archäologen, im ansonsten bebauten Umfeld tiefer zu schürfen.
Ein Kleinbagger bewältigt die gröbere Arbeit. Ansonsten kommen filigranere Werkzeuge zum Einsatz: Spaten, Spachtel und was Archäologen sonst so benutzen. „Schicht für Schicht wird begutachtet“, beschreibt Heuer die Untersuchung des Untergrunds, während sie in Gummistiefeln im Dreck steht. Die Wissenschaftlerin hilft dabei, das Entdeckte zu verstehen. Zusammengefasst lässt sich Folgendes sagen. Es gab frühe Vorgängersiedlungen. Darauf entstand eine ausgewachsene Burg mit einem mächtigen steinernen Wohnturm, einer Ringmauer, einem Graben und wohl einem vorgelagerten Palisadenzaun. Heuer meint, dies hätte sie an dieser Stelle nicht erwartet.
Wobei der Knackpunkt des Ganzen noch kommt. Die Archäologen haben Brandschichten entdeckt, die auf Zerstörungen der Burg hinweisen. „Darin fanden wir Keramikscherben“, sagt Heuer. Laut ihren Worten legen die Funde und deren Umfeld nahe, dass die festgestellten Mauern in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts hochgezogen wurden. Was nichts anderes bedeutet, als dass ausgerechnet in Jettenburg eine der ersten steinernen Burgen weit und breit stand.
„Die erste Ritterburg“lässt sich unfachlich scherzen. Wissenschaftler verziehen bei solch saloppen Bemerkungen das Gesicht. Gut sichtbar bei Heuer, die für Fodilus arbeitet, ein Rottenburger Büro für Archäologie und Grabungstechnik. Aber ebenso erkennbar in der Miene von Dorothee Brenner, zuständige Gebietsreferentin des Landesamtes für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart und fachliche Leiterin der Grabung. Bei beiden Frauen ist jedoch auch der Stolz erkennbar, „etwas sehr Bedeutendes entdeckt zu haben“, wie Brenner anfügt.
Tatsächlich dürfte der Fund mithelfen, etwas Licht in die bisher dunkle Zeit des frühen Burgenbaus zu bringen. Gemäuer ist nicht einfach Gemäuer. Das, was von all den so oft romantisierten Burgen heutzutage noch über der Erde sichtbar ist, stammt üblicherweise aus jüngeren Zeiten: Türme, Wohngebäude, Wehrmauern. Als Beispiel herausgegriffen sei die Ruine Staufeneck bei Göppingen im Filstal, heutzutage bekannt durch ein edles wie teures Ausf lugsrestaurant.
Dort steht einer der schönsten Bergfriede der Region, der zentrale Turm, das klassische Symbol einer deutschen Burg. Bei Staufeneck reicht er noch bis in 30 Meter Höhe, ist rund, verjüngt sich nach oben und besteht außen aus Buckelquadern. Seine Datierung: in der Mitte des 13. Jahrhunderts gebaut – also fast 200 Jahre nach der Anlage von Jettenburg. Da neigte sich die hochmittelalterliche Kaiserherrlichkeit von Geschlechtern wie den legendären Hohenstaufen mit ihrem Friedrich Barbarossa oder Friedrich II. schon dem Ende zu. Bald darauf ebbte obendrein der Burgenboom ab, dessen Höhepunkt mit dieser Dynastie verbunden ist.
Ihr Stammsitz liegt übrigens unweit von Staufeneck auf markanter Höhenlage nördlich vor dem Albtrauf. Wie Jettenburg zählt er zu den frühen Burgen – nur dass archäologische Funde weitgehend fehlen. Zu oft ist auf dem Hohenstaufen umgebaut und abgerissen worden. Weshalb sich die Forschung vor allem auf eine schriftliche Quelle stützt: den Aufzeichnungen des 1158 gestorbenen Geschichtsschreibers Otto von Freising. Demnach soll die Burg um 1070 herum auf dem Grund einer bestehenden Besiedlung entstanden sein.
Seinerzeit begannen bewegte Jahrzehnte. Die Herrscher des damaligen römisch-deutschen Reichs stritten mit den Päpsten um den Vorrang – ein weltgeschichtlicher Konflikt, ausgetragen in Schreibstuben zur propagandistischen Verdammung des Gegners ebenso wie von Kanzeln herab und auf Schlachtfeldern. Zwischen 1096 und 1099 zog ein abendländisches Heer auf dem ersten Kreuzzug ins Heilige Land, nahm Jerusalem ein. Kreuzfahrerstaaten entstanden.
Nach althergebrachter Lehrmeinung kam es in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts auch zur ersten Burgenbauwelle in Mitteleuropa. Zum Verständnis: Gemeint sind damit aus Stein errichtete wehrhafte Familiensitze von Adeligen. Sie stehen im Gegensatz zu davor bereits existierenden, durch Wälle gekennzeichneten Fliehburgen für die Bevölkerung oder mit Palisaden befestigten Herrensitzen in Dörfern.
Neben dem Hohenstaufen lässt sich etwa die ebenso nur noch rudimentär feststellbare Grafenburg Achalm bei Reutlingen durch eine Chronik dem 11. Jahrhundert zuordnen. In diesem Fall sind es Schriften, die im Kloster Zwiefalten auf der südlichen Albseite entstanden. Ungefähr ab 1040 soll auf dem Berg gemauert worden sein. Offenbar zog es zuerst den hohen Adel in die Höhe. Exponierte Lagen kamen wohl einem gesteigerten Bedürfnis nach Machtsymbolen und dem Ausdruck einer Abgehobenheit vom gemeinen Volk entgegen – ganz gemäß dem Motto: Wir da oben, ihr da drunten.
Während diese Gefühlslage noch als Stand der Wissenschaft begriffen werden kann, scheint die Datierung einer ersten Burgenbauwelle überholt zu sein – dank archäologischer Erkenntnisse, neuer Untersuchungstechniken wie Bodenradar und fächerübergreifenden Studien. „Heute wissen wir, dass der Bau von Höhenburgen weitaus früher angefangen hat, als wir vor 15 oder 20 Jahren gedacht haben“, betont Michael Kienzle von der Uni Tübingen. Er ist Experte für frühe Burgen im Raum der Schwäbischen Alb.
Kienzle erwähnt die obere Diepoldsburg bei Lenningen westlich vom Albaufstieg der A 8, wohl jene spärlich erhaltene Burg „Thietpoldispurch“, auf der im Jahr 914 der schwäbische Pfalzgraf Erchanger den Bischof von Konstanz gefangen gehalten haben soll. Archäologische Funde legen nahe, dass die Anlage schon im 9. Jahrhundert bestand. Ähnliches lässt sich für den Runden Berg bei Bad Urach sagen, wo im Wald auch steinerne Wehranlagen entdeckt wurden.
Vermutet wird zudem, dass es abseits der Albkuppen mehr solcher Anlagen wie in Jettenburg gegeben hat. Sie harren noch eines Finders – wohl des Öfteren unter Dörfern oder Städten versteckt. Weitere mögliche Beispiele von Frühburgen zu nennen, würde jedoch den Rahmen sprengen. Vielleicht sollte auch besser der Frage nachgegangen werden, weshalb man sich ausgerechnet im Bereich der Alb bewegt. Burgen wurden schließlich überall gebaut. „Die Schwäbische Alb ist aber eine der dichtesten Burgenlandschaften Deutschlands“, betont Kienzle. Seltsam, könnte man meinen. Immerhin erhielt das Mittelgebirge zwischenzeitlich einen Ruf als abgelegene und abgehängte Ecke.
Hochnäsige Städter aus Stuttgart haben sich lange darüber lustig gemacht. Im Mittelalter stellte sich die Situation aber anders dar. Die Alb lag zwischen Machtzentren des Reiches. Durch ihre Täler und über ihre Steige führten unverzichtbare Nord-Süd-Verbindungen. Handelsstraßen kreuzten sie von Ost und West. Irgendwie geartete Posten zur Kontrolle solcher Wege lagen nahe – zumal die Alb mit ihren Bergen und Felsnasen attraktive Bauplätze bot. Daneben fehlte eine Zentralmacht, die den Burgenbau reglementiert hätte. Irgendwann ergriff selbst jeder kleine Ritter die Chance, sich ein standesgemäßes Eigenheim zu errichten.
Hinzu kommt eine archäologische Erkenntnis aus den vergangenen 20 Jahren. Sie betrifft den Albtrauf. Forscher entdeckten eine umfangreiche Eisenwirtschaft aus dem12. und 13. Jahrhundert, stellten Abraumhalden und Spuren von Verhüttungsöfen fest. Kienzle spricht von „einem mittelalterlichen Montanrevier“. Damit ließ sich Reichtum scheffeln. Dies passt wiederum zur auffallenden Ballung hochadeliger Familien entlang des Albtraufs: Hohenstaufen, Zähringer, Hohenzollern, Grafen von Achalm, Pfalzgrafen von Tübingen et cetera.
Auch die Herren von Jettingen waren keine niedrigen Dienstmannen. Sie sind als Edelfreie überliefert, die letztlich nur König oder Kaiser unterstanden. Ab dem frühen 12. Jahrhundert tauchen die Jettinger in schriftlichen Quellen zuerst in Verbindung mit den Achalmer Grafen auf, danach im Gefolge der Tübinger Pfalzgrafen. „Aufgrund solcher Erwähnungen musste man eigentlich mit einer imposanten Burg in Jettenburg rechnen“, meint Kienzle.
Hinzu kommt, dass ihre einstige Lage wohl gar nicht so schlecht war, wie sie heute anmutet: errichtet auf einem wegen der Dorfbebauung nicht mehr feststellbaren Hügel, umf lossen von drei später kanalisierten Bächen. Des Weiteren legt der alte Name von Jettenburg den Verlauf einer Handelsstraße nahe. Der Flecken taucht zuerst als Utinbrugge auf. Es muss also eine wichtige Brücke oder eine Furt gegeben haben.
Andererseits wurde vom Zeitverlauf eine falsche Spur bei der Einschätzung von Jettenburg gelegt. So verabschiedeten sich die Burgherren noch im Mittelalter aus der Geschichte – und ebenso ihre ansehnliche Anlage, zerstört oder abgerissen. An deren Stelle trat eine einfachere Dorfburg, wie es eine Überlieferung aus dem 15. Jahrhundert besagt. Auch dieses Gemäuer verschwand. Auf dem Gelände erhoben sich fortan Häuser. Nebenan, eventuell im Bereich einer ehemaligen Vorburg, entstand die Dorf kirche St. Ulrich. Erst das Ansinnen im vergangenen Jahr, dort einen neuen Wohnkomplex hochzuziehen, bot die Chance, im Untergrund nachzuschauen. Wobei größere Teile des vermuteten Burgareals weiterhin überbaut und damit nicht erforschbar sind. Jürgen Soltau, Bürgermeister der Gemeinde Kusterdingen, zu welcher Jettenburg gehört, reicht aber schon das Entdeckte: „Es ist toll.“Im Dorf herrscht ebenso Interesse. Ein Passant freut sich: „Das wertet uns ja richtig auf.“
Bloß werden die Jettenburger nur im Geiste etwas davon haben. Der Aushub für eine Tiefgarage zerstört einen Teil des Freigelegten. Die Fundamente des Wohnturms sollen zwar erhalten bleiben, aber vom Wohnkomplex überdeckt werden.