Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Wenn der Staat die Weiterbildung zahlt
Ab April gibt es das Qualifizierungsgeld – Aber nicht alle sind von dieser Hilfsleistung begeistert
- Der Staat bezahlt künftig teilweise die Weiterbildung und Umschulung von Arbeiterinnen und Arbeitern. Ab dem 1. April erhalten Unternehmen das sogenannte Qualifizierungsgeld, sofern sie es denn beantragt haben. Diese Maßnahme wurde durch das „Gesetz zur Stärkung der Aus- und Weiterbildungsförderung“vom Bundestag bereits im Juni 2023 beschlossen. Damit soll dem immer schnelleren Wandel der Arbeitswelt begegnet werden. Zielgruppe des Qualifizierungsgeldes sind Beschäftigte, deren Jobs aufgrund des Strukturwandels gefährdet sind.
Auch für die Unternehmen in der Region ist dieser Wandel eine Herausforderung, zum Beispiel durch die Transformation hin zur E-Mobilität. „Strukturwandel und Digitalisierung fordern Unternehmen aller Größenklassen und Branchenzugehörigkeiten“, sagt ein Sprecher der Industrieund Handelskammer (IHK) Bodensee-Oberschwaben. Dass sich nahezu alle Industriebetriebe gerade wandeln, zeigen auch die Zukunftschecks der IG Metall Baden-Württemberg. Zusammen mit Betriebsräten und Vertrauensleuten erarbeiten hier Vertreter der IG Metall Konzepte, wie die Unternehmen zukunftsfähiger werden können. Der Bedarf ist groß, denn auch die Industrie in der Region kommt nicht am Strukturwandel vorbei. „Konkret ist die Automobilbranche, in Teilen aber auch der Maschinenbau, betroffen sowie Betriebe quer zu allen Branchen, die bislang nur unzureichend digitalisiert haben“, so eine Sprecherin der IG Metall.
Ein solches Unternehmen ist der Automobilzulieferer Marquardt aus Rietheim-Weilheim (Landkreis Tuttlingen). „Im Zuge des Strukturwandels spielt selbstverständlich auch die kontinuierliche Weiterbildung unserer Beschäftigten eine wichtige Rolle“, sagt ein Unternehmenssprecher.
Um entsprechende Weiterbildungen zu finanzieren, gibt es nun das Qualifizierungsgeld. Es greift als Lohnersatz, was heißt, dass Arbeitnehmer für die Zeit, in
der sie an der Weiterbildung teilnehmen, Geld von der Arbeitsagentur anstelle ihres Gehalts bekommen. Es handelt sich also nicht um eine zusätzliche Zahlung, während der Weiterbildungen
bekommen sie keine Lohnzahlung von ihrem Arbeitgeber. Das Qualifizierungsgeld für kinderlose Arbeitnehmer liegt bei 60 Prozent des Nettogehalts. Arbeitnehmer mit mindestens einem Kind erhalten 67 Prozent. Die Arbeitgeber können diesen Betrag zusätzlich aufstocken.
Die Reaktionen darauf sind prinzipiell positiv. „Das Qualifizierungsgeld stellt aus Sicht der IHK eine positive ergänzende Maßnahme zu den bereits bestehenden Fördermöglichkeiten, beispielsweise aus dem Qualif izierungschancengesetz, dar“, sagt der Sprecher der IHK. Die Kammer berate und begleite darüber hinaus zahlreiche Unternehmen bei ihrer Transformation. Auch die IG Metall begrüßt die Maßnahme und sieht darin großes Potenzial. „Wir machen uns derzeit auf den Weg, diese Fördermöglichkeit mit unseren Strategien in den Betrieben zu verknüpfen“, sagt ein Sprecher der Gewerkschaft. Ein Anknüpfungspunkt seien die „Weiterbildungsmentoren“der IG Metall. Durch dieses Programm sollen Beschäftigte dazu animiert werden, die Weiterbildungsmaßnahmen in ihren Betrieben zu fördern.
Doch es gibt nicht nur lobende Stimmen für das Qualifizierungsgeld. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) kritisiert: „Es verkompliziert ein ohnehin bereits komplexes System weiter und schließt Unternehmen aus, die über keine einschlägige Betriebsvereinbarung oder einschlägigen Tarifvertrag verfügen.“Laut BDA erreicht das Qualifizierungsgeld vor allem größere Unternehmen. Demnach passen die Förderkriterien nicht gut auf kleine und mittlere Unternehmen. Die Nutzung wird dem Verband zufolge auch dadurch eingeschränkt, dass der Verbleib im Betrieb garantiert sein muss.
Der Zulieferer Marquardt hat die Hilfe nach eigenen Angaben noch nicht beantragt. Grund dafür ist, dass der Zuschuss erst ausgezahlt wird, wenn das Unternehmen nachweist, dass bei mindestens 20 Prozent der Belegschaft ein Qualifizierungsbedarf besteht. In Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern müssen es nur zehn Prozent sein. Bei kleinen Unternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern reicht eine schriftliche Erklärung zur Beantragung des Qualifizierungsgeldes aus.
Die Förderung an eine bestimmte Mindestanzahl von Beschäftigte zu koppeln, sei schwierig, heißt es bei Marquardt. Denn dann müssten 20 Prozent der gesamten Belegschaft für eine Weiterbildung abgestellt werden. „Wir haben deshalb kein Qualifizierungsgeld beantragt, da die Forderung nach einer Mindestanzahl der zu qualifizierenden Mitarbeiter wieder einmal an der Realität vorbeigeht. Es gilt erneut: Gut gedacht – schlecht gemacht“, kritisiert der Unternehmenssprecher. Auch die IHK betont, dass dort, wo sowieso schon Fachkräfte fehlen, diese auch nicht in großer Zahl für Weiterbildungsmaßnahmen freigestellt werden könnten.
Am Umfang der Weiterbildungsmaßnahme entzündet sich ebenfalls Kritik. Diese muss nämlich mindestens 120 Stunden umfassen. Laut Arbeitsagentur kann sie berufsbegleitend, in Vollzeit oder auch in Teilzeit absolviert werden. Die Arbeitnehmer sind derweil an einen bestimmten Bildungsträger gebunden, der sich zunächst für solche Weiterbildungsmaßnahmen zertifizieren muss.
Darüber hinaus bestehe der Anspruch, dass die Lerninhalte „über eine ausschließlich arbeitsplatzbezogene, kurzfristige Anpassungsfortbildung hinausgehen“, schreibt die Agentur. Beispielsweise könne eine Schulung für eine betriebsspezifische Software nicht gefördert werden.
Laut Bundesarbeitsministerium entscheiden die örtlichen Agenturen für Arbeit über die konkrete Mittelverwendung. Im Entwurf des Aus- und Weiterbildungsgesetzes war man von jährlichen Mehrkosten durch das Qualifizierungsgeld in Höhe von bis zu 360 Millionen Euro ausgegangen.
Bei Marquardt bleibt man unter dem Strich skeptisch. „Das Qualifizierungsgeld allein wird nicht ausreichen, um den Strukturwandel zu meistern“, sagt der Unternehmenssprecher. Es brauche vonseiten der Politik vor allem verlässliche Rahmenbedingungen, die den Unternehmen im Land Planungssicherheit verschaffen.