Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Männer, die auf Rindfleisch starren
In seinen Seminaren legt Metzger Philipp Sontag den Finger in die Wunden unserer Nahrungskette
Dieser Mann heißt Philipp Sontag. Und er ist der Prototyp eines Metzgers: Wuchtige Statur, ein roter Bart, schallende Stimme, starke Arme, an dessen Enden eindrucksvolle Hände hängen und die beim Schütteln einen schraubstockähnlichen Druck erzeugen können. Seine Finger wiederum sind wulstige Zeugen der harten Arbeit, die der 36-Jährige in rund 70 Stunden pro Woche leistet.
17 Männer und eine Frau, die vermutlich nur ihren Gatten begleitet, drängen sich in der Metzgerei. Wegen der Folien-Kittel und Haarnetze wirken sie ein bisschen wie menschgewordene Präservative. Erwartungsvoll nimmt diese Mannschaft aus Hobbyköchen, Grillenthusiasten, Gastronomen und Fleischfetischisten an der großen Tafel Platz. Ein wenig Theorie muss sein, bevor Philipp Sontag Ernst macht. Dort, wo die Gesellschaft jetzt sitzt, werden für gewöhnlich Rinder und Schweine getötet. Am Ende des Raumes steht ein Tisch, auf dem Messer und ein Beil liegen, aufgereiht neben dem Bolzenschussgerät. „Das reicht sogar für einen Wasserbüffel“, erklärt Sontag und lenkt die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf den Prozess des Betäubens der Tiere, die durch den Einsatz des Bolzens in der Kürze eines Wimpernschlags in den Zustand absoluter Bewusstlosigkeit versetzt würden. Das Gerät durchschlägt bis zu zehn Zentimeter dicke Schädeldecken.
„Gelebter Tierschutz“
Sontag spricht von Verantwortung, die nicht erst bei ihm im Betrieb anzufangen habe, sondern schon im Stall, mit dem kürzest möglichen Transportweg: „Am besten ist es, der Bauer führt das Tier selbst herein und beruhigt es.“Keine Panik, kein Stress, weder für den Schlachter noch für das Schlachttier. Ruhige Bewegungen – und ein plötzlicher Knall. „Das, was wir hier machen, was uns auszeichnet, wollen die wenigsten Leute mir ihrem Schnitzel in Verbindung bringen“, sagt Sontag. „Metzger sein ist für mich gelebter Tierschutz, weil ich dann sicher sein kann, dass kein anderer das Vieh aus Unachtsamkeit quält.“Fleisch essen heißt, so die stumme Botschaft hinter der plastischen Analyse des Schlachtvorgangs, ein anderes Lebewesen töten zu müssen. Punkt.
Die Männer wechseln jetzt den Raum und Metzger Hans, ein Angestellter von Philipp Sontag, holt eine Rinderhälfte aus dem Kühlhaus. Beim Anblick des kolossalen Fleischbergs tritt eine ehrfurchtsvolle Stille ein. Sontag lässt sein Messer ge- schickt durch die Schichten von Fett, Sehnen und Muskeln gleiten. Mit kraftvollen Bewegungen teilt er schließlich Vorder- und Hinterhälfte mit der Säge am Knochen. Durch das Fleisch füllt sich der Raum mit einem leicht süßlich-metallischen Geruch. Die Veranstaltung nimmt den Charakter einer anatomischen Lehrstunde an, als Sontag Schritt für Schritt mit der Zerlegung fortfährt und bei jedem Stück des Rindes auf das menschliche Pendant zu sprechen kommt. „Das hier ist der Meniskus“, sagt der Metzger. Er macht weiter, bis er bei der Achillessehne ankommt. Die Männer knipsen Fotos und der Raum ist erfüllt von respektvoller Zurückhaltung. Nur Philipp Sonntag doziert mit lauter Stimme und verwandelt das große Ganze in die Einzelteile, die den meisten Kursteilnehmern geläufig sind: Oberschale, Wade, Filet und so fort.
Purpurne Rottöne
Peter Stoller, leidenschaftlicher Grillfreund aus Kißlegg, sagt: „Ich kann hier viel lernen. Das verändert mein Verhältnis zum Fleisch und zum Metzger.“Auch Küchenmeister Rudi Spieß aus Bad Waldsee, Betreiber der „Gaststätte Versteigerungshalle“, ist fasziniert: „Sehr interessant. Ich bin besonders gespannt auf das Dry Age“. Dieses lange trocken gelagerte Fleisch kommt als Nächstes unters Messer von Philipp Sontag: Umgeben von Talg und einer dunklen Schicht, zerlegt er es mit präzisen Schnitten. In der Mitte offenbart es purpurne Rottöne. Der süßliche Geruch steigert sich. „Dry Age ist nichts anderes als Verderb unter kontrollierten Bedingungen“, erklärt Sontag. Über Wochen hinweg transformieren biologische Prozesse unter Beteiligung von Milchsäure das Fleisch. Es verliert bis zu 40 Prozent an Gewicht. Übrig bleibt der konzentrierte Geschmack. Kostenpunkt: Zum Beispiel 36 Euro pro Kilo T-Bone-Steak.
Dry Age mit Snob-Faktor
Der höhere Preis erklärt sich durch die starken Gewichtseinbußen. Außerdem kostet die Reifung Zeit und Platz im Lager. Doch der Aufwand lohnt sich: Im Ergebnis entwickelt das Fleisch eine aromatische Intensität, wie sie unter normalen Bedingungen nicht zu erzeugen ist. Aber: „Es gibt Leute, denen ist das zu intensiv“, erklärt Sontag. Es komme immer wieder vor, dass Kunden es reklamierten. Es sei nicht mehr gut, heiße es dann. „Trocken gereiftes Fleisch hat einen gewissen SnobFaktor.“Das räche sich bei Leuten, die es nur wegen des aktuellen Trends kauften und es eigentlich nicht zu schätzen wüssten.
Davon kann bei den Kursteilnehmern aber keine Rede sein. Sontag wuchtet ein zuvor stundenlang bei niederer Temperatur im Wasserbad vorgegartes Steak auf den Grill im Hof. Er kombiniert gerne diese Garmethoden, um einerseits die unvergleichliche Zartheit mit dem rustikalen Charakter der Röstaromen zu vereinen.
„Das macht er richtig gut“, lobt Klaus Winter, der in Oberschwaben ein echter Grill-Guru ist und sogar seine eigene Show bei Regio-TV hat. Beim Probieren schließt er die Augen. Niemand im Saal spricht mehr ein Wort, als das Fleisch von den Tellern in den Mund wandert.
Endlich kann auch Philipp Sontag einen Moment verschnaufen. Es sei nie eine Frage gewesen, ob er als Metzger in die Fußstapfen seines Vaters treten wolle. „Das war von Anfang an klar.“Und so hat er alles, was mit Schlachtung und Zubereitung von Fleisch zu tun hat, bereits mit der Muttermilch aufgesogen. „Der Vater hat aber gesagt, ich kann machen, was ich will.“
Das Zeug für etwas anderes hätte Sontag auf alle Fälle gehabt. Die Art, mit der er redegewandt, intelligent und leidenschaftlich für seine Sache in den Kursen eintritt, reißt mit. Aber als kleiner Betrieb in einem Dorf, sei es nicht leicht, sich gegen die übermächtige Billigkonkurrenz zu behaupten. „Das geht langfristig nur, wenn du dich spezialisierst.“Und so hat Sontag vor drei Jahren angefangen, Fleisch trocken reifen zu lassen. Und bald darauf Kurse zu geben, in denen er pointenreich für ein Umdenken im Fleischkonsum hin zu Qualität eintritt – freilich auch in eigener Sache. Denn Betriebe seiner Größe haben nach den Gesetzen des Marktes eigentlich schlechte Karten. Eigentlich. Leicht sei der Weg für einen kleinen Metzger natürlich nicht. „Es liegt aber auch an vielen Metzgern selbst, unter denen die Akademikerdichte nicht unbedingt sehr hoch ist.“
Artgerechter Mitarbeiter-Umgang
Dass aus der großen Klappe von Philipp Sontag auch in Bezug auf seine Mitmenschen mehr als nur heiße Luft dampft, zeigt das Beispiel von Metzger Hans: Als der vor ein paar Jahren aus gesundheitlichen Gründen seinen Job im Schlachthof verlor, hat Sontag ihm eine Chance gegeben. Mit 59 Jahren und obwohl Hans gleich von vorneherein klar gemacht hat, dass er trockener Alkoholiker ist. Heute ist Hans 61 und sagt: „Was Besseres hätte mir nicht passieren können.“Der artgerechte Umgang beschränke sich beim Chef nicht nur auf die Viecher, sondern umfasse auch ihn als Angestellten.
Philipp Sontag erreicht mit seiner Mission inzwischen immer mehr Menschen. Seine Seminare, die mit ausgiebiger Fleischverkostung und Getränken 89 Euro kosten und rund vier Stunden dauern, sind stets im Nu ausgebucht. Dass er damit überwiegend Leute anspricht, die ohnehin schon ein Bewusstsein für Qualität und Herkunft haben, weiß Sontag. Aber so schnell gibt er die Hoffnung nicht auf, dass der Umdenkungsprozess auch eines Tages solche Menschen erreicht, die Fleisch bislang nur dann richtig gut finden, wenn es möglichst billig ist.
Sontag repräsentiert die sechste Generation des 160 Jahre alten Familienbetriebs. Und er weiß, dass es die letzte wäre, würde er sich auf einen Preiskampf mit der globalen Fleischindustrie einlassen.