Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Verheugen verreißt Flüchtlingspakt
Mit Inkrafttreten gehen die Probleme weiter – Brugger nennt Pakt mit der Türkei „Ausverkauf der europäischen Seele“
- Als „moralisch grenzwertig“und „juristisch fragwürdig“hat der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD) den Flüchtlingspakt mit der Türkei bezeichnet. Sein Hauptproblem aber sei, dass es sich um eine „Verzweiflungstat“handele, „sich abhängig zu machen von dem Land, dem man gesagt hat, dass es in Europa nichts zu suchen hat“. Dies sagte Verheugen bei einem Medientag der Bundesakademie für Sicherheitspolitik zum Thema Flucht, Migration und Sicherheitspolitik.
Passend zum ersten Tag des Inkrafttretens des Paktes diskutieren in der Bundesakademie für Sicherheit Vertreter der Politik, des Militärs und der Medien die Herausforderungen durch Flucht und Migration. Einhellige Diagnose: Die Flüchtlingskrise ist keine Krise, sondern eine dauerhafte Herausforderung.
Die Grünen-Verteidigungspolitikerin Agnieszka Brugger geht über Verheugens Urteil noch hinaus. Der Pakt mit der Türkei sei der „Ausver- kauf der europäischen Seele“. Sie zollte Angela Merkel Respekt, dass sie sich wohltuend abhebe von anderen Akteuren in der Flüchtlingskrise, auch wenn das Problem noch lange nicht gelöst sei. Brugger geht davon aus, dass der Seeweg nach Rumänien und Bulgarien, der Seeweg von Libyen und die Weltbalkanroute für Flüchtlinge wieder interessanter werden. „Der Syrien-Konflikt ist nicht in ein paar Monaten zu lösen.“
Brugger für europäische Lösung
Brugger mahnt, rechtzeitig an die Fluchtursachen zu gehen, für die Grünen-Politikerin steht dabei der Klimawandel auf Platz eins. Eine vorausschauende Politik ist für Brugger auch auf anderen Feldern das A und O. Viel zu lange, fünf Jahre, habe der Westen zugeschaut, wie in den Flüchtlingslagern an der Grenze Sy- riens die Essensrationen gekürzt wurde. Brugger spricht sich dafür aus, weiterhin für eine europäische Lösung zu werben, auch wenn bislang gerade mal 500 von den zugesagten 160 000 Flüchtlingen aufgeteilt sind.
Auch der CSU-Innenpolitiker Stephan Mayer hält die Strategie der Kanzlerin für eine europäische Lösung für richtig. Anders als Verheugen ist Mayer „gedämpft optimistisch“, was die Chancen des Paktes angeht. Allerdings wisse auch die CSU, dass weiterhin Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden. Trotzdem warnt Mayer, es dürfe für die Visaerleichterungen für die Türkei keinen Rabatt geben, die Türkei müsse erst alle Kriterien erfüllen. Professor Siegmar Schmidt, Leiter des Loeb-Instituts der Universität Koblenz-Landau, sprach von einem hohen Migrations- druck. Armut, Umweltzerstörung, Krieg seien die bekannten Fluchtursachen, hinzukomme immer häufiger der Staatsverfall von Ländern wie dem Irak oder Syrien.
Aus Behördenkreisen wurde berichtet, dass für weitere Probleme in Deutschland auch die große Zahl von Migranten sorgen werde, deren Personalien noch nicht von den Behörden aufgenommen wurden. Ihre Zahl wird auf mindestens 400 000 geschätzt. Nicht zu vergessen jene ISTerroristen, die mit den Flüchtlingen zusammen über das Mittelemeer gekommen seien. Außerdem gebe es gut 100 000 Flüchtlinge, die abgeschoben werden müssten, was aber aus diversen Gründen nicht geschehe.
Verheugen sieht am meisten schwarz für Europa. Er sagt neue Fluchtrouten von Libyen über das Mittelmeer voraus, so dass es in Kürze wieder unhaltbare Zustände in Italien geben werde. Die EU sei unfähig, auf die Krise zu reagieren. Und als ob das nicht genüge, sagte Verheugen, noch vor Sommer werde der Bankrott Griechenlands anstehen.