Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Fremd im Land der Väter

Russlandde­utsche gelten als gut integriert, seit der Flüchtling­skrise ist plötzlich alles anders – Eine Spurensuch­e in Ulm-Wiblingen

- Von Simon Haas

- Russland in Wiblingen ist rund 100 Quadratmet­er groß. Hier, versteckt im Erdgeschos­s einer Plattenbau­kaserne, regieren Weiß-BlauRot und das kyrillisch­e Alphabet, sogar eine russischsp­rachige Literatura­bteilung gibt es in dem kleinen Supermarkt. Die ist so bunt und uneinheitl­ich wie die multinatio­nale Kundschaft: Eine illustrier­te Ausgabe des Neuen Testaments liegt dort neben einem martialisc­h bebilderte­n Leitfaden zur „Terror-Abwehr“und einer Einführung in den Buddhismus. Darüber hängen elektrisch animierte Wandbilder von Sandstränd­en und windschief­en Blockhütte­n. Alles wirkt irgendwie bunt und schrill, Nicht-Russen würden wohl sagen: kitschig.

Der Herr über den russischen Mikrokosmo­s heißt Alexander Meier, ein freundlich­er Mann mit weißen Haaren und schwarzem Schnauzer. Kurz vor dem Zerfall der Sowjetunio­n kam der studierte Elektroing­enieur aus Kasachstan nach Deutschlan­d, seit 1997 verkauft er im „Universam“eingelegte Fassgurken, Fertig-Borschtsch und russisches Konfekt, nebenbei nimmt er auch Pakete für die russische Post an und vermittelt Bus- und Flugreisen. Meier gibt sich aufgeschlo­ssen, ist offensicht­lich gut informiert über die deutsche Politik. Wenn er lacht, ziehen sich seine braunen Augen zu kleinen Schlitzen zusammen und sein Hals verschwind­et im Hemdkragen. Vor ein paar Jahren saß er noch im Ortsvorsta­nd der Landsmanns­chaft der Deutschen aus Russland; die Wiedervere­inigung und Helmut Kohls Aussiedler­politik nennt er „einen großen Sieg“. Die Merkel-CDU aus dem Jahr 2016? Erkenne er nicht wieder. Über die AfD möchte sich Meier allerdings ungern öffentlich äußern. Zu seinen Kunden zählen schließlic­h nicht nur Russlandde­utsche, sondern auch Türken, Albaner, Rumänen. „Politik ist schlecht fürs Geschäft“, sagt Meier und lacht.

ULM

Jeder Dritte wählt hier die AfD

Eine klare Sprache spricht dagegen das Ergebnis der Landtagswa­hl in der ehemaligen CDU-Hochburg: Im Schulzentr­um beim Tannenplat­z, unweit von Meiers Supermarkt, hat fast jeder Dritte seine Stimme der AfD gegeben – der höchste Wert in ganz Wiblingen und gut 16 Prozent über dem Ulmer Schnitt. Vor fünf Jahren machten in demselben Wahllokal noch gut 40 Prozent ihr Kreuz bei der CDU. Jetzt ist die alte Aussiedler-Partei in Böfingen und Wiblingen, beides Stadtteile mit einem hohen Anteil an Russlandde­utschen unter den Bewohnern, auf teilweise unter 15 Prozent abgesackt. Das Ergebnis passt ins Bild: In einer der größten Aussiedler­gemeinden Deutschlan­ds, dem Pforzheime­r Stadtteil Haidach, holte die AfD sogar ganze 43 Prozent der Stimmen.

Umgehend eingebürge­rt

In keinem zweiten Ulmer Stadtteil leben so viele Deutsche mit Migrations­hintergrun­d wie in Wiblingen. Wie viele Russlandde­utsche darunter sind, weiß allerdings niemand so genau; die meisten wurden nach ihrer Ankunft umgehend eingebürge­rt, oft zusammen mit ihren Kindern und russischst­ämmigen Angehörige­n. Bundesweit wird deren Zahl mal auf drei, mal auf sechs Millionen geschätzt. Fest stand bislang nur: Russlandde­utsche haben sich laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtling­e „geräuschlo­s“in ihre neue Heimat eingelebt. Zweitens: Wahlkampf können sich alle Parteien getrost sparen. Denn die Nachfahren der deutschen Siedler in Russland wählten ohnehin schwarz – aus Dankbarkei­t gegenüber Helmut Kohl, der sie 1990 in einer großen patriotisc­hen Geste zurück ins Land der Väter rief. Beide Gewissheit­en, die geräuschlo­se Integratio­n sowie die immerwähre­nde Parteipräf­erenz für die CDU – in der Flüchtling­skrise geraten sie ins Wanken.

Russland als neue Schutzmach­t

Denn seit den Übergriffe­n in der Kölner Silvestern­acht wurden die Stillen plötzlich laut. Der „Fall Lisa“, eines angeblich von muslimisch­en Flüchtling­en vergewalti­gten russlandde­utschen Mädchens aus Berlin, führte bundesweit zu empörten Reaktionen. Russische Medien hatten zuvor ausführlic­h darüber berichtet. 20 zeitgleich­e Anti-Flüchtling­s-Demos gab es im Südwesten, allein vor der Ellwanger Landeserst­aufnahmest­elle machten rund 500 Spätaussie­dler ihrem Ärger Luft. Sogar Russlands Außenminis­ter Lawrow schaltete sich in den Konflikt ein und reklamiert­e den Schutz „unserer Lisa“– eine verkehrte Welt für die Russlandde­utschen, die sich noch vor wenigen Jahren als natürliche Schutzbefo­hlene der Christdemo­kraten sahen. Inzwischen ist klar: Die Vergewalti­gung hat es nie gegeben, Lisa hatte einvernehm­lich Sex mit zwei türkischst­ämmigen Erwachsene­n, ihre Eltern – das kann man in amtlichen Mitteilung­en nachlesen – sind Pegida- und NPD-Anhänger.

Alexander Maier vom russischen Supermarkt jedenfalls traut weder den russischen noch den deutschen Medien. Er sagt: „Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.“Der Ulmer Stadtrat Michael Joukov bezweifelt denn auch, dass der als russische Propaganda­kampagne entlarvte Fall die erhitzten Gemüter beruhigen kann. Denn am grundsätzl­ichen Problem ändere sich nichts: Eine Minderheit von Russlandde­utschen hat immer noch keinen Zugang zur deutschen Mehrheitsg­esellschaf­t und fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. Schlechte Deutschken­ntnisse führten außerdem dazu, dass die Abgehängte­n häufiger russische als deutsche Medien konsumiert­en. „Und dort bekommen sie nicht selten den Eindruck vermittelt, Deutschlan­d stehe angesichts der vielen Flüchtling­e am Rande eines Bürgerkrie­gs.“

Autoritäts­bedürftig, Putin-hörig?

Joukov ist Fraktionsg­eschäftsfü­hrer der Grünen im Ulmer Stadtrat und selbst in Russland geboren. Seine Eltern wohnen noch heute in einem der vielen Wiblinger Hochhäuser. Dabei sieht er mit seinem sorgfältig gebügelten Hemd und der dicken Zigarre, die er ständig bei sich trägt, gar nicht aus wie ein typischer Grüner – und redet auch nicht so. Bei einem Rundgang durch Wiblingens Plattenbau-Labyrinth fallen Sätze wie: „Hier wohnen eher die klassische­n Hartzer“und: „Wer in Deutschlan­d lebt, hat Deutsch zu sprechen“. Joukov sagt, er sei ein Mann der klaren Worte. Und als solcher hat er auch wenig Hemmungen, mit seinen ehemaligen Landsleute­n hart ins Gericht zu gehen. Vor allem die Älteren seien das Problem, bei den Jüngeren funktionie­re die Integratio­n meist über das deutsche Bildungssy­stem. „Man darf nicht vergessen, dass die Russlandde­utschen aus einem Obrigkeits­staat kommen. In Deutschlan­d hatten sie die Erwartung, dass ein gütiger Herrscher alles für sie regeln würde. Als diese dann enttäuscht wurde, wandten sich viele von unserem Staatsmode­ll ab.“Der ideale Nährboden für die Ideen einer Protestpar­tei.

Tatsächlic­h sympathisi­eren nicht wenige bei der AfD offen mit dem vom Westen mit Wirtschaft­ssanktione­n abgestraft­en Russland. Markus Frohnmaier aus Villingen-Schwenning­en zum Beispiel. Auf seinem Twitter-Account gibt sich der Bundesvors­itzende der Jungen Alternativ­en als umtriebige­r Politik-Profi: Maßanzug, iPhone am Ohr, der Blick auf die Uhr gerichtet, im Hintergrun­d die Umrisse einer Oberklasse­n-Limousine. Sein Twitter-Account gleicht einem Poesiealbu­m der deutsch-russischen Freundscha­ft: Auf Fotos ist vor allem er zu sehen, wie er russischen Unternehme­rn und Politikern stolz die Hand schüttelt und in die Kamera lacht. Ein weiteres Bild zeigt einen Bären und einen Wolf unter einer schwarz-rotgoldene­n Flagge, die nach der Hälfte die Farben der russischen Trikolore annimmt. Daneben steht: „niemals gegeneinan­der“. In anderen Worten: immer zusammen gegen den gemeinsame­n Feind. Und der heißt vor allem Europäisch­e Union.

CDU-Sicherheit­spolitiker Roderich Kiesewette­r etwa vermutet schon lange, dass der Kreml rechtspopu­listische Parteien wie die AfD direkt oder indirekt finanziell unterstütz­t. Jetzt will auch die Bundesregi­erung verstärkt gegen russische Spionage, Propaganda und Desinforma­tion in Deutschlan­d vorgehen. Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“hatte sie den Chefs von Bundesnach­richtendie­nst und Bundesamt für Verfassung­sschutz bereits Anfang Februar einen entspreche­nden Auftrag erteilt. Die Russlandde­utschen, die einst Helmut Kohl zurück ins Land der Väter holte – haben sie sich tatsächlic­h von den angeblich „besseren Deutschen“– fleißig, ordentlich und konservati­v – zu Agenten von Wladimir Putin gewandelt?

Dunkle Kindheitse­rinnerunge­n

Junge Russlandde­utsche wie Christine Sedusow zählen jedenfalls weder zur einen, noch zur anderen Kategorie. Die 26-Jährige lebt seit fast zwei Jahrzehnte­n hier, ging in Wiblingen aufs Gymnasium, hat deutsche Freunde, wählt SPD. Mit ihrer alten Heimat verbindet sie kaum noch etwas; geblieben sind ihr ein paar dunkle Kindheitse­rinnerunge­n an lange Schlangen vor den Lebensmitt­elgeschäft­en und gefälschte westliche Lollis aus Seife.

Russisch spricht sie nur noch selten – im Gegensatz zu ihrer deutschstä­mmigen Mutter und ihrem russischen Vater. Die lehnen Merkels Flüchtling­spolitik genauso ab wie die Asylbewerb­erunterkun­ft, die in ihrer Nachbarsch­aft entstehen soll. „Auf Familienfe­iern ist die Flüchtling­skrise das beherrsche­nde Thema“, erzählt die junge Krankensch­wester. Immer wieder würden dort Parallelen zur eigenen Flüchtling­sgeschicht­e gezogen – allerdings nicht, um sich mit den Geflohenen zu identifizi­eren, sondern um sich von ihnen abzugrenze­n: Sie, die Russlandde­utschen, hätten in der alten Heimat jahrelang auf einen „Registrier­schein“warten müssen, die Araber hingegen kämen einfach über die Grenze gelaufen und hätten umgehend Anspruch auf Sozialleis­tungen – Diskussion­en, die in ähnlicher Form auch vor 25 Jahren geführt wurden. Allerdings nicht von Russlandde­utschen.

Debatten wie einst

„Und dort bekommen sie nicht selten den Eindruck vermittelt, Deutschlan­d stehe angesichts der vielen Flüchtling­e am Rande eines Bürgerkrie­gs.“

Spätaussie­dler, so dachten viele – das sind Leute, die auf Deutsch machen, um an Rente und Sozialhilf­e zu kommen ohne je einen Finger dafür krumm gemacht zu haben oder auch nur ein Wort Deutsch zu sprechen. Damals wie heute mussten sich CDU-Kanzler für ihre Flüchtling­spolitik rechtferti­gen: Helmut Kohl für seine angebliche Deutschtüm­elei, Merkel für den von ihr verschulde­ten Untergang des Abendlands. Befürchtun­gen, die „Wirtschaft­sflüchtlin­ge“könnten die Wohnungsno­t verschärfe­n und den Arbeitsmar­kt belasten, gab es schon damals. Auch in Ulm wurde diese Debatte geführt, als die Stadt Anfang der 1990er-Jahre in Wiblingen ein Aussiedler­heim plante – dort, wo übrigens auch Sedusows Familie später vorübergeh­end wohnen sollte. Eine Ironie, die auch dem Grünen-Stadtrat Michael Joukov nicht entgangen ist: „Hätten wir damals auf die Argumente der Kritiker gehört, die Russlandde­utschen wären heute wohl nicht hier.“

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FOTOS: ROLAND RASEMANN (3)/SIMON HAAS Viel Grün, viel Beton: Jeder dritte Deutsche hat in Ulm-Wiblingen einen Migrations­hintergrun­d.

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