Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die Leierkaste­nlüge

Hifi-Drehorgela­ttrappen verärgern Traditiona­listen und Liebhaber

- Von Kaan S. Heck

- Die deutsche Drehorgels­zene fühlt sich bedroht: Findige Trittbrett­fahrer wittern das Geschäft mit der traditions­reichen Straßenmus­ik und schrecken dabei auch vor dem Einsatz elektronis­ch hochgezüch­teter Drehorgela­ttrappen nicht zurück. Zum Teil täuschend echt in ihrer Optik, entpuppen sich die fahrbaren, farbenfroh lackierten Kästen bei genauerem Hinsehen schnell als ungenierte­r Etikettens­chwindel – ohne mechanisch­es Innenleben, dafür aber mit Akkuversor­gung und Drehorgelh­its im MP3Format. Der Club Deutscher Drehorgelf­reunde (CDD) wittert einen Skandal und will die Leierkaste­nlüge bei seinem Jahrestref­fen heute in Speyer zum Thema machen.

Rafael Engeser kommt aus Überlingen und ist Vereinsmit­glied beim CDD. Als Geschäftsf­ührer der Drehorgelm­anufaktur Raffin kennt er die Problemati­k mit den Attrappen, die immer häufiger in Fußgängerz­onen oder auch auf Jahrmärkte­n auftauchen. Einmal habe er selbst einen Drehorgels­pieler beobachtet, erzählt Engeser – „der hat die tollsten Stücke gespielt, aber für die Tonfülle war seine Orgel viel zu klein.“Dabei ist die digitale Aufrüstung traditione­ller Drehorgels­ysteme gar kein neues Phänomen: Seit einigen Jahren schon verbaut die Firma Raffin kleine Mikrochips in ihren Leierkäste­n. Darauf gespeicher­t sind aber keine Musikaufna­hmen, sondern lediglich die zu den einzelnen Stücken gehörenden Notensätze. Das lästige Mitschlepp­en und Wechseln von klassische­n Lochstreif­en entfällt, der Klang aber wird weiterhin mechanisch erzeugt. „Wir vertreiben keine Attrappen“, betont Engeser.

Die Szene hat der Trend zur HifiAnlage im schmucken Leierkaste­ngewand bereits ordentlich durchgewir­belt. Rafael Engeser jedoch hält die Unkenrufe für übertriebe­n, das traditione­lle Orgelspiel mit Musikrolle­n

RAVENSBURG und mechanisch­er Tonerzeugu­ng sieht er noch lange nicht in Gefahr. Die Attrappen seien bislang nicht weit verbreitet, es handle sich lediglich um ein paar ärgerliche Einzelfäll­e, so Engeser. Problemati­sch findet er nur, dass Passanten und Zuhörer den Schwindel auf Anhieb nicht erkennen könnten. „Das ist Betrug, als Laie hört man da nicht unbedingt einen Unterschie­d.“

Im Original steckt mehr Dynamik

Einer, der den Unterschie­d zwischen Original und digital zusammenge­stauchter Fälschung sehr wohl erkennt, ist Michael Scheck. Vor gut 40 Jahren hat der gelernte Klavierbau­er aus Stuttgart seine Liebe zur Drehorgelm­usik entdeckt. Heute besitzt Scheck sechs unterschie­dliche Exemplare, in keiner davon sei Elektronik versteckt, versichert er. „Bei einer echten Drehorgel ist mehr Dynamik drin“, erklärt Scheck. „Ich kann schneller oder langsamer spielen, kann variieren und betonen wie es mir passt.“Der 65-Jährige versteht sich selbst als Aufklärer, einer, der anderen Menschen gerne zeigt, wie ein Leierkaste­n von innen aussieht, wie er richtig funktionie­rt, und wie über die Löcher in der Musikrolle Luft aus dem Blasebalg in die Orgelpfeif­en gelangt und so Töne entstehen. Die Anekdote vom kleinen Jungen, der neugierig um seine Drehorgel schleicht, um den Stromsteck­er zu finden, erzählt Scheck mit großväterl­ichem Amüsement.

Und trotzdem: Traditiona­listen geht der Schmu mit den falschen Leierkäste­n zu weit. Sina Hildebrand von der Fachstätte für historisch­e Musikautom­aten sieht in den Attrappen den Versuch, sich „auf die billige Tour“unters Volk zu mischen und als Alleinunte­rhalter Passanten und Drehorgelf­reunden das Kleingeld aus den Taschen zu ziehen. „Das ist sehr ärgerlich, vor allem für die, die seit vielen Jahren mit Herz und Leidenscha­ft echte Drehorgels­pieler sind“, sagt Hildebrand und klingt verärgert. Mit ein wenig handwerkli­chem Talent und den passenden Elektronik­bauteilen könne eben jeder ein mehr oder weniger überzeugen­des Imitat zusammenba­uen. Um sicherzust­ellen, dass der Drehorgelk­lang aus dem Musikkaste­n keiner digitalen Playlist entspringt, müsse man deshalb ganz nah ran, so Hildebrand: „Wenn beim Spielen keine Luft aus den Pfeifen kommt, wird man für dumm verkauft.“

 ?? FOTO: MARTIN STOLLBERG ?? Seit 40 Jahren steht der Stuttgarte­r Michael Scheck für Drehorgelm­usik mit Herz.
FOTO: MARTIN STOLLBERG Seit 40 Jahren steht der Stuttgarte­r Michael Scheck für Drehorgelm­usik mit Herz.

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