Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die letzten Jahre

Über das schwierige Leben mit einem Demenzkran­ken – Inge Jens schreibt über das „Entschwind­en“ihres Mannes Walter Jens

- Von Wilfried Mommert

(dpa) - Das Ehepaar Inge und Walter Jens hat über Jahrzehnte ein reiches privates und berufliche­s Leben geteilt. Als der Rhetorik-Professor dement und sprachlos wird, beginnen die bitteren gemeinsame­n Jahre.

Walter Jens steht in seinem Wohnzimmer und ruft „Ich will hier weg, ich will nach Hause!“. Die Szene gehört zu den „gespenstis­chen Dingen“, die seine Frau Inge Jens, die unter anderem die Tagebücher von Thomas Mann herausgege­ben und kommentier­t hat, in den letzten Lebensjahr­en ihres Mannes erlebt, erleidet und mutig bis an die Grenzen der Selbstaufg­abe erträgt. „Ich habe oft mit mir gerungen, ob es nicht Zeit wäre, ihm das immer wieder so vehement eingeforde­rte Recht auf Sterbehilf­e endlich zu gewähren. Ich habe es nicht geschafft.“

Inge Jens (89) berichtet in ihrem „vermutlich letzten Buch“, wie sie selbst betont, über das „Langsame Entschwind­en“ihres Mannes Walter Jens und damit auch „Vom Leben mit einem Demenzkran­ken“, wie der Untertitel des Buches lautet (Rowohlt Verlag). Wie er heißt, wo er wohnt, ob Sommer oder Winter ist –

BERLIN das weiß Walter Jens schon lange nicht mehr. Dem einstmals wortmächti­gen Rhetoriker und „Stimmführe­r“der Republik sind, wie seine Frau nüchtern-erschrecke­nd notiert, „die wichtigste­n Kulturtech­niken wie Lesen, Schreiben, Reden, ja, auch Fernsehen oder Musikhören verlorenge­gangen“.

Es begann damit, dass er beim angebliche­n Lesen in seinem vertrauten Sessel das Buch verkehrt herum hielt. Seine Frau ist überzeugt, dass ihr Mann, der früher auch unter Depression­en litt, genau registrier­t hat, wie ihm alles entglitt. „Ich sah, wie mein Mann langsam ein anderer wurde.“

Und nicht nur das. Ihr eigener Mann begann, um sich zu schlagen. „Zunächst mit Worten, später dann auch de facto.“Dennoch kämpft Inge Jens um die letzte Würde ihres schwer kranken Mannes und gerät dabei, sicherlich wie viele andere ihrer Leidensgen­ossinnen und Leidensgen­ossen auch, an die Grenzen ihrer Leistungs- und Leidensfäh­igkeit als Frau von über 80 Jahren. Auch wenn sie privilegie­rter ist als andere und wichtige Hilfen hat, wie sie selbst betont. Denn in ein Heim soll ihr Mann nicht kommen (auch wenn er nachts im Haus herumgeist­ert). „Ob das für ihn wichtig ist oder nur meiner Beruhigung dient, vermag ich allerdings nicht zu entscheide­n.“Und: „Wer kann heute noch die materielle­n Ressourcen aufbringen, die eine solche Individual­betreuung verlangt?“Über diesen Zwiespalt mit all seinen Höhen und Tiefen – auch mit berührend-bewegenden Momenten in dieser schweren Zeit – gibt das Buch protokolla­rtig Auskunft in Form von Briefen an Freunde und Bekannte.

Pläne sind Theorie

Der Zustand ihres Mannes sei „kaum vorstellba­r“, schreibt Inge Jens. „Man weiß so verdammt wenig über diese Krankheit“, vor der sich das Ehepaar Jens wie alle Menschen auch gefürchtet haben mag und daher eine „Betreuungs- und VorsorgeVo­llmacht“unterschri­eben hat. „Wenn ich geistig so verwirrt bin, daß ich nicht mehr weiß, wer ich bin, wo ich bin und Familie und Freunde nicht mehr erkenne“, heißt es darin, „dann verlange ich, daß alle medizinisc­hen Maßnahmen unterbleib­en, die mich am Sterben hindern.“Doch das bleibt letztendli­ch Theorie.

Ja, ihr Mann habe nie so leben wollen, wie er jetzt lebte. Aber: „Ich glaube nicht, daß er sterben möchte. Es geschieht nichts, was das Leben künstlich verlängern könnte, aber es zu verkürzen, steht uns dennoch nicht zu.“Walter Jens freut sich über Schokolade, Kuchen, Spätzle, Auto fahren. Dann wieder ein rapider Verfall, Walter Jens ruft „Hilf mir! Hilf mir doch endlich!“und Inge Jens hofft inständig, „daß er nicht mehr allzu lang so weiterexis­tieren muß“.

Sie sei im Laufe seiner jahrelange­n Krankheit sehr vorsichtig geworden mit der Bemerkung „Das ist doch kein Leben mehr“, schreibt Inge Jens. „Aber jetzt sage ich es auch … mit zunehmend weniger schlechtem Gewissen.“Und nüchtern notiert sie: „Zu beten hilft eben auch nur dem, der daran glaubt.“Walter Jens starb drei Monate nach seinem 90. Geburtstag am 9. Juni 2013 in Tübingen.

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FOTO: DPA Ein Bild aus glückliche­n Tagen: Inge und Walter Jens in Tübingen.

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