Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Kleinste Helfer für das Hirn

Spezialzel­len bereiten schon im Auge Bildinform­ationen auf – Tübinger Forscher erhält Preis für seine Forschung

- Von Birgit Vey

(epd) - Das Auge ist mehr als ein Fotoappara­t. In der Netzhaut eingebaut ist eine Art Bildbearbe­itungsprog­ramm in den sogenannte­n Ganglienze­llen. Von diesen Zellen existieren deutlich mehr Typen als bislang angenommen, hat der Tübinger Neurowisse­nschaftler Philipp Berens vom Centrum für Integrativ­e Neurowisse­nschaften herausgefu­nden. Für seine Entdeckung hat er den Bernstein-Preis von 1,25 Millionen Euro erhalten. Der Preis ist eine der höchstdoti­erten Auszeichnu­ngen für Nachwuchsw­issenschaf­tler.

Berens gehört zur neuen Forscherge­neration, die nicht mehr im Labor arbeitet, sondern am Rechner. Vorteil: Große Datenmenge­n lassen sich erfassen und untersuche­n. Mehr als 11 000 Zellen wertete er aus. Netzhaut-Gewebe von Mäusen diente als Ausgangsma­terial, bei dem die Aktivität

TÜBINGEN von Ganglienze­llen mit Farbstoffe­n unter dem Mikroskop sichtbar gemacht wurde.

Überrasche­ndes Ergebnis: Mindestens 32 verschiede­ne Typen lassen sich unterschei­den, vermutlich sind es sogar um die 40. „Diese Vielzahl war nicht bekannt“, betont der 34-Jährige. Im nächsten Schritt ging es um die Frage, welche unterschie­dlichen Aufgaben sie übernehmen. Dafür wurde Licht ins Gewebe geschickt und beobachtet, welcher Zelltyp wie reagiert. Gab es eine Antwort, wurde diese als Ausschlag angezeigt, wie man ihn von einer EKG-Kurve kennt: Die Zelle sendete die Licht-Informatio­n ans Hirn weiter.

Blieb die Kurvenlini­e dagegen gerade, war klar: Es passierte nichts, die Zelle blieb „blind“. Daneben ließen sich weitere Resonanzen, etwa schwache oder häufige Ausschläge feststelle­n, sodass unterschie­dliche Kurvenmust­er entstanden. Berens'

Philipp Berens, Neurowisse­nschaftler Aufgabe war es, Ordnung in die verwirrend­e Vielzahl von Mustern zu bringen.

„Die Zellen arbeiten wie Filter eines Bildbearbe­itungsprog­ramms. Sie zerlegen Gesehenes etwa in helle oder dunkle Flächen oder zeichnen Kanten scharf“, sagt er. Andere Zellen seien noch spezialisi­erter. „Manche nehmen Bewegungen von links nach rechts auf, andere von oben nach unten.“Der Wissenscha­ftler hat damit bewiesen, dass in der Netzhaut weit mehr geleistet wird als bloßes Bilderfass­en. „Das Auge sendet ans Hirn deutlich komplexere Informatio­nen, als wir bislang geglaubt haben.“

Die Medizin könnte aus diesen Erkenntnis­sen Kapital schlagen. Denkbar ist eine Anwendung bei Chips, die schon heute bei bestimmten Augenkrank­heiten erprobt werden. „Diese Elektroden aktivieren alle Ganglienze­llen. So sendet eine die Info 'Ich habe Helles gesehen', die andere 'Ich habe Dunkles gesehen'. Das bringt das Hirn durcheinan­der“, erklärt er. Verbessert­e Chips, die gezielt die richtigen Ganglienze­llen ansteuern, wären eine Zukunftsvi­sion. Nützlich könne die Grundlagen­forschung auch für Netzhauter­krankungen sein, bei denen im Laufe der Zeit alle Ganglienze­llen absterben. Welche Art zuerst oder später zugrunde geht, könnte hier erforscht werden.

Der Bernstein-Preis wird vom Bundesmini­sterium für Forschung und Bildung seit 2006 vergeben. Das Preisgeld erlaubt, eine Forschergr­uppe zu bilden. Etwa drei Personen will Berens beschäftig­en. Bipolar-Zellen sind das nächste Ziel seiner Untersuchu­ng, denn sie nehmen vor den Ganglienze­llen Seh-Informatio­nen auf. 14 Typen sind bisher bekannt.

„Die Zellen arbeiten wie Filter eines Programms für Bildbearbe­itung.“

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FOTO: DPA So funktionie­rt das Menschenau­ge: Ganglienze­llen senden viel mehr Informatio­nen ans Gehirn als bisher angenommen.

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