Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Marktwirts­chaft oder Gewerkscha­ftsstaat

Vor 40 Jahren ist das damals umstritten­e Mitbestimm­ungsgesetz in Kraft getreten

- Von Joachim Göres

- Am 1. Juli 1976 – also vor genau vierzig Jahren – ist das Mitbestimm­ungsgesetz in Kraft getreten. Seitdem werden in Unternehme­n mit mehr als 2000 Beschäftig­ten die Aufsichtsr­äte paritätisc­h besetzt – in dem Gremium, dass den Vorstand eines Unternehme­ns beruft und kontrollie­rt, sind die Arbeitnehm­er genauso stark wie die Arbeitgebe­r vertreten. Dieses Gesetz war lange umstritten – daran erinnert die Ausstellun­g „Vom Wert der Mitbestimm­ung“der Hans-Böckler-Stiftung, die seit Kurzem im Bayerwerk in Wuppertal zu sehen ist.

Die Bundesvere­inigung der Arbeitgebe­rverbände warnte auf ihrem Kongress „Marktwirts­chaft oder Gewerkscha­ftsstaat“1974 vor der Einschränk­ung der unternehme­rischen Freiheit und lehnte den Gesetzentw­urf der damaligen SPD/FDP-Bundesregi­erung kategorisc­h ab. Auch Heinz Oskar Vetter, Vorsitzend­er des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes, war mit den Plänen nicht einverstan­den – ihm ging das Gesetz nicht weit genug: „Jede gesetzlich­e Regelung, die den Anteilseig­nern ein Stimm-Vorrecht einräumt, verdient nicht den Namen ‚Mitbestimm­ung‘.“

Damit meinte er den von den Arbeitgebe­rn gestellten Vorsitzend­en, der im Streitfall bei Stimmenpat­t ein Doppelstim­mrecht hat. Zudem kritisiert­e Vetter, dass bei den Vertretern der Arbeitnehm­er immer auch leitende Angestellt­e zu wählen seien. Diese und andere Proteste der Arbeitnehm­er blieben erfolglos: Am 18. März 1976 stimmten fast 95 Prozent der Bundestags­abgeordnet­en dem „Gesetz über die Mitbestimm­ung der Arbeitnehm­er“zu. Vetter bezeichnet­e es als größte Enttäuschu­ng in seiner Amtszeit als DGB-Vorsitzend­er.

Ausgenomme­n sind von dem Gesetz sogenannte Tendenzbet­riebe wie Kirchen und Verlage, in denen die Arbeitnehm­er weniger Rechte haben. In der Montanindu­strie haben Beschäftig­te dagegen weitergehe­nde Mitbestimm­ungsrechte. WUPPERTAL

1979 wies das Bundesverf­assungsger­icht eine Klage der Arbeitgebe­r gegen das Gesetz zurück. 2004 bezeichnet­e es der Bundesverb­and der Deutschen Industrie als nicht mehr zeitgemäß – ausländisc­he Investoren würden dadurch abgeschrec­kt. Jean-Dominique Senard, Chef des französisc­hen Reifenhers­tellers Michelin, betonte dagegen in einem Interview von 2012: „Man diskutiert knallhart mit den Arbeitnehm­ervertrete­rn, aber am Ende einigt man sich, und die Gewerkscha­ften tragen die Konzernstr­ategie mit. Daraus ergibt sich eine ungemeine Stärke. Sie als Deutsche sind sich ihres Glücks vermutlich gar nicht bewusst.“

Streitfrag­e Firmenstra­tegie

Kontrovers­en in Aufsichtsr­atssitzung­en gibt es nach einer Befragung der IG Metall bei 783 Arbeitnehm­ervertrete­rn in Aufsichtsr­äten vor al- lem bei der Diskussion mit dem Arbeitgebe­r über die richtige Unternehme­nsstrategi­e (von 50 Prozent der Befragten angegeben), über die Schließung von Standorten (41 Prozent), die Abspaltung von Unternehme­nsteilen (37 Prozent) und die Personalen­twicklung (32 Prozent).

Nach Zahlen der Hans-BöcklerSti­ftung gab es im vergangene­n Jahr 635 paritätisc­h mitbestimm­te Unternehme­n nach dem Gesetz von 1976. Im Jahr 2002 lag diese Zahl noch bei 767. Laut Böckler-Stiftung versuchen Unternehme­n zunehmend, die Mitbestimm­ung zu umgehen – beispielsw­eise durch die Gründung von Europäisch­en Aktiengese­llschaften (Societas Europaea, kurz SE). Besonders im Einzelhand­el werde getrickst – die Mehrheit der Unternehme­n mit mehr als 2000 Mitarbeite­rn habe keinen Aufsichtsr­at.

Dies werde durch die Aufspaltun­g in Regionalge­sellschaft­en mit je- weils weniger als 2000 Mitarbeite­rn erreicht. Zwar muss durch das Drittelbet­eiligungsg­esetz von 2004 auch in Unternehme­n mit 500 bis 2000 Beschäftig­ten ein Aufsichtsr­at gebildet werden, in dem die Arbeitnehm­er ein Drittel der Mitglieder stellen. Doch eine GmbH & Co. KG wie auch Familienst­iftungen sind davon ausgenomme­n. Das machen sich nach Angaben der Böckler-Stiftung Unternehme­n wie Aldi und Lidl zunutze. Auch in anderen Handelsunt­ernehmen wie Edeka, Netto, C&A, Primark, Zara und Zalando würden durch das Ausnutzen von Rechtslück­en Beteiligun­gsrechte ausgehebel­t.

Insgesamt sind 7500 Frauen und Männer als Arbeitnehm­ervertrete­r in den Aufsichtsr­äten von rund 2200 Unternehme­n aktiv, unter anderem bei Schwäbisch­e Hüttenwerk­e, Deutz und Iveco Magirus (alle Ulm) sowie bei ZF Friedrichs­hafen.

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FOTO: DPA „ Dort, wo wir Mitbestimm­ung praktizier­en, sind die Arbeitsbed­ingungen deutlich besser.“Der Vorsitzend­e des Deutschen Gewerkscha­ftsbunds ( DGB), Reiner Hoffmann, wertet das Mitbestimm­ungsgesetz als Erfolg.

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