Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Blut und Tränen
Literaturwettbewerb in Klagenfurt: Der Ingeborg-Bachmann-Preis wird 40 – und war immer gut für Skandale
- Nun lesen sie wieder: Der Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt hat begonnen. Als erste Leserin ging die österreichische Kandidatin an den Start: Stefanie Sargnagel, die durch ihre frech-obszönen Texte im Netz bekannt geworden ist. Einen Skandal hat es nicht gegeben. Dabei kann der Literaturwettbewerb in seinem 40-jährigen Bestehen auf eine durchaus turbulente Geschichte zurückblicken.
Das Blut, es tropft nicht, es läuft. Von seiner Stirn rinnt es die Nase entlang, es sammelt sich in einer Pfütze auf dem Blatt Papier vor ihm. Doch Rainald Goetz liest weiter, nachdem er sich die Stirn mit einer Rasierklinge aufgeritzt hat. Er liest sich in Rage, er schreit das geschockte Publikum im Landesstudio Kärnten des ORF in Klagenfurt beinahe an. KLAGENFURT
Punk und Literatur
Die Lesung des Münchener Autoren bei der siebten Auflage des IngeborgBachmann-Preises war mehr Punkkonzert als bloße Rezitation eines selbstverfassten Textes. Diese Szene ist zu einer Ikone des Lesewettbewerbs geworden, der in diesem Jahr seinen 40. Geburtstag feiert. In den vergangenen vier Jahrzehnten war er schon immer gut für Skandale.
1976 wurde der Preis von der Kärntner Landeshauptstadt Klagenfurt gestiftet, seit 1977 lesen Autoren in der Geburtsstadt der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann vor einer Fachjury von Literaturkritikern und -Wissenschaftlern, müssen mit anhören, wie ihre Texte zerpflückt werden. Am Ende winkt ein Preisgeld.
Goetz' Text, mit dem er 1983 antrat (da saß Marcel Reich-Ranicki noch in der Jury und Aschenbecher lagen auf den Kritiker-Tischen) war wütende Zustandsbeschreibung des Literaturbetriebs. Anlass dazu bot die Veranstaltung von Anfang an. Das Gerücht, der Gewinner stünde schon vorab fest, veranlasste den Veranstalter 1977 zu Unschuldsbeteuerungen. In Briefen versicherte er den eingeladenen Autoren, dass dies nicht stimme.
Sigrid Löffler, Autorin für das österreichische Nachrichtenmagazin „Profil“, bezeichnete den Bachmann-Preis als „würdeloses Wettlesen, bei dem eines auf der Strecke blieb – die Literatur“, und vor allem „einer profitierte – der SuhrkampVerlag. Drei Pferdchen aus dem Suhrkamp-Stall (Jonke, Fröhlich, Laederach) als Bestplatzierte, ein Pferdchen (Struck) sensationell gestürzt – Stallbesitzer Unseld wird sich gratulieren dürfen“, schrieb Löffler am 28. Juni 1977.
Im Landesstudio selbst gab es früh den ersten Eklat. Jury-Mitglied Reich-Ranicki sorgte mit unnötiger Härte für die weinende Teilnehmerin Karin Struck. „Wen interessiert schon, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert“, urteilte er über Strucks Text, der keine Literatur, sondern „ein Verbrechen“sei. Struck flüchtete unter Tränen aus dem Saal.
Eine Bühne für die Literatur
Der Bachmann-Preis war schnell zur Bühne geworden. Die Autoren wussten darum und nutzten das öffentliche Setting zur Selbstinszenierung, textlich und szenisch. Goetz’ Beispiel ist wohl das extremste. Philipp Weiss verarbeitete 2009 mit „Blätterliebe“die Unzufriedenheit eines Schriftstellers mit seinem Werk. Allzu schlecht kann es nicht gewesen sein, so rein geschmacklich. Nach der Lesung verleibte Weiss sich seinen Text ein – wortwörtlich. Er aß sein Manuskript.
Der Schweizer Urs Allemann sorgte mit seinem Text 1991 gar für politische Diskussion. Allemanns imaginierte Wunschfantasie eines Pädophilen trägt den Disput schon im platten Namen - die Geschichte heißt „Babyficker“.
Oftmals entsteht der Eindruck, die Veranstalter kalkulierten den Skandal. Im vergangenen Jahr hat Jury-Vorstand Hubert Winkels WeltAutorin und Bloggerin Ronja von Rönne eingeladen, die im Frühjahr 2015 mit ihrem Pamphlet „Warum mich der Feminismus anekelt“für einen Shitstorm gesorgt hatte. Doch von Rönne war handzahmer als angenommen (oder gehofft).
Die Bühne für Autoren ist jedoch kostspielig, rund 750 000 Euro kostet es den ORF Jahr für Jahr. 2013 war unklar, ob der Bachmann-Preis überhaupt seinen nächsten runden Geburtstag erleben würde, der öffentlich-rechtliche Sender wollte aus Kostengründen aussteigen. Doch die Verantwortlichen entschieden sich dagegen.
Überraschend brav
Nun also hat der Bachmann-Preis die 40 erreicht, ein saturiertes, gesetztes Alter. Altersmilde ist er dennoch nicht geworden. Dieses Jahr gehört die junge österreichische Satirikerin und Bloggerin Stefanie Sargnagel zum Teilnehmerfeld. Sie ist für ihren derben Humor bekannt. Im vergangenen Jahr hat sie für den Bayerischen Rundfunk einen Nachbericht zum Bachmann-Preis geschrieben. Titel: „Wie Deutschland sucht den Superstar für Streber“.
Mit ihrem Text „Penne vom Kika“hat Sargnagel den Wettbewerb am Donnerstagmorgen eröffnet. Die selbstreflexive Geschichte einer gelangweilten jungen Frau, die sich der Gesellschaft verweigert und nach einem Thema für ihren WettbewerbsBeitrag sucht, erntete überwiegend positive Kritik. Der Skandal blieb aus. Jury-Vorsitzender Hubert Winkels fühlte sich dennoch an Rainald Goetz erinnert. Blut floß diesmal dennoch nicht.