Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Einsamkeit am Fluss
In der entlegenen zentralgriechischen Region Evrytania beherrscht allein die Natur das Geschehen
rosta, brosta“, ruft Kostas. Auf sein Kommando hin versenken sechs Menschen ihre grüne Paddel im Wasser und ziehen sie nach hinten durch. „Stopp“, kommt die nächste Anweisung von hinten im Boot. Brav nehmen wir die Paddel aus dem Wasser und lassen uns treiben. Heute muss sich auf der Raftingtour auf dem Tavropos in der zentralgriechischen Region Evrytania keiner verausgaben. Weite Strecken können wir uns angenehm durch das kristallklare Wasser treiben lassen, bis wieder die Aufforderung zu ein paar Paddelschlägen kommt. Wegen des milden Winters fließt ungewöhnlich wenig Wasser im Tavropos. Kilometerlang sind kaum Anzeichen von Zivilisation erkennbar. Man hört nur Plätschern und Vogelgezwitscher. Der Fluss schimmert türkis, links und rechts säumen bewaldete Hänge das Ufer. Kostas kennt den Fluss in- und auswendig, weiß, wann die Stromschnellen kommen, wie lange das Boot einfach treiben kann und an welcher Stelle man besser kräftig paddelt. Seit 24 Jahren arbeitet der 52-Jährige als Guide. „Piso, Piso“, schallt es von hinten – das Kommando von hinten nach vorne zu paddeln.
Zehn Kilometer führt die Tour den Tavropos entlang. Etwa auf der Hälfte der Strecke bedeutet Kostas seinen Ausflüglern, das Boot anzuhalten. Watet man ein paar Minuten durchs Wasser, gelangt man an einen Wasserfall. Wer einen nassen Neoprenanzug nicht scheut, kann hier ein paar Züge schwimmen.
Rafting, Kanu und Canyoning
Danach schlängelt sich der Fluss behutsam durch die Landschaft, die Wellen tanzen. Gemächlich führt die Fahrt den Fluss hinunter. Mal wieder kommt eine größere Kurve, und von da an rückt der 1975 Meter hohe Chelidona in den Blick. Vier Leute (inklusive Bootsführer) sind die Minimalbesetzung für die Raftingtour. Die Saison ist dieses Jahr kurz. Kanufahren und Canyoning sind aber auch dann möglich, wenn das Wasser zum Raften nicht mehr ausreicht, erklärt Betreiber Nikos von F-Zein Active. Er und sein Team bieten auch Wanderungen, Klettersteigtouren und Paintball-Abenteuer an.
Auf der Raftingtour ist man kilometerweise alleine unterwegs, bis kurz vor Ende der Tour wieder Spuren der Zivilisation erkennbar sind. Klare Flüsse, Wasser von hoher Qualität, reine Luft, saubere Landschaft – damit rühmt sich Evrytania. Abseits der Touristenhochburgen geht es hier noch ursprünglich zu. Die Menschen sind herzlich, und von den Speisekarten springen einem keine Abbildungen der Gerichte entgegen, vieles ist nur auf griechisch beschrieben.
Wer der Natur nahe sein möchte, ist in Zentralgriechenland richtig. Viele Wanderpfade schlängeln sich durch die Wälder mit Tannen und Eichen. Auf einem solchen führt Anestis Tsionis seine Gruppe entlang. Die Liebe zu den Bergen hat der 26-Jährige früh entdeckt. Schon als kleiner Junge nahm ihn sein Vater mit in die Wälder, um Oregano, Bergtee und Pilze zu sammeln. „Es gibt unendlich viele verschiedene Pilze. Alle sind essbar, manche aber nur einmal“, scherzt er. Er kennt sich beeindruckend gut in seiner Heimat aus. Auch mit Pflanzen, Tieren, der Mythologie und der Geschichte. „Ich habe zwar ein technisches Studium begonnen, bin aber viel lieber in die Archäologie-Vorlesungen gegangen“, gibt er augenzwinkernd zu. Viele der Wanderwege weisen eine lange Tradition auf, waren ehemals Handelswege und lange Zeit die Hauptverbindung zwischen den Orten. „Früher ging hier mein Opa mit seinen Maultieren entlang“, sagt Anestis. Auf den verschiedenen Verbindungen lassen sich auch Abstecher zu Wasserfällen, Klettersteigen oder zum Kloster von Prousos machen.
Wer die Umgebung lieber vom Pferderücken aus erkundet, ist beim Saloon Park richtig, wo auch ein Bogenschießplatz, ein Kletterturm und ein Trampolin auf die Besucher warten. Die Tour in der kleinen Gruppe führt über Wiesen hinunter zum Fluss Kapenisiotis. Tom reitet voran. Wortkarg, aber immer mit Überblick, weist er den Weg und hilft an Hindernissen vorbei. Die Sonnenstrahlen brechen sich im Fluss, eine steinerne Brücke führt darüber. Gebaut haben sie zwei Brüder, die Goldstücke gefunden haben, erzählt man sich. Denn wer Goldstücke findet und behält, ohne dafür gearbeitet zu haben, lässt entweder zu, dass ihm ein Unglück widerfährt – oder er tut etwas Gutes für die Allgemeinheit. Die Brüder entschieden sich für letzteres und haben die Steinbrücke gebaut, die je nachdem aus welcher Perspektive man sie betrachtet, die Brücke von Xerolikes oder Korischades ist.
Region reich an Geschichten
Die Region ist reich an solchen Geschichten. Rund 300 Kilometer fährt man vom Flughafen Athen nach Evrytania in Zentralgriechenland. In der Region Evrytania, die sich auf knapp 1900 Quadratkilometer erstreckt, wohnen etwa 20 000 Menschen, gut ein Drittel davon in der Hauptstadt Karpenisi. Um dort hinzugelangen und vor Ort mobil zu sein, empfiehlt sich ein Mietwagen.
Die Menschen von Evrytania schwärmen für ihre Region und de- ren Traditionen, so auch Konstantinos Manzioutas. Früher hat er Häuser gebaut, jetzt ist der 64-Jährige ehrenamtlicher Präsident von Megalo Chorio. Wenn er vom Dorfleben erzählt, ist seine Begeisterung spürbar. Voller Inbrunst singt er vor, wie in der Kalimera-Woche Anfang Januar den Familien gute Neujahrswünsche überbracht werden. Ende August steht das Tsipouro-Festival an. Wie der Tresterbrand destilliert wird, kann man im Folkloremuseum sehen. Und wer nicht so lange auf den Tsipouro warten will, bestellt ihn in der Taverne. Yamas!