Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Detailbesessener Emotionsbolzen
Italiens Trainer Antonio Conte gibt der Squadra Azzurra mehr mit als eine Spielidee
(dpa/sz) - Antonio Conte schimpfte, dirigierte, schrie und gestikulierte. Während Italiens 2:0-Achtelfinalsieg gegen Spanien stand Italiens Nationaltrainer kaum eine Minute still, trotzte auch dem strömenden Regen zu Spielbeginn mit Mütze und Jacke. Beide Kleidungsstücke legte er freilich sofort ab, als sich das Wetter besserte. Doch auch im schicken Anzug lebt Conte seinen Spielern bedingungslosen Einsatz vor und treibt seine – betrachtet man die Einzelspieler – eigentlich alles andere als überragende Truppe während der EM immer wieder zu neuen Höchstleistungen. Dass er die Squadra Azzurra nach der EM verlässt? Egal. Sein feststehender Abschied zum englischen Spitzenverein FC Chelsea beeinflusst offensichtlich weder ihn noch die Spieler. MONTPELLIER
Christian Vieri: „Ich erwarte mir einige Tricks von Conte“
Seine Landsleute hat er beeindruckt, nicht nur die Fans, sondern auch ExSpieler und Experten. „Conte ist ein großartiger Trainer. Der beste dieser EM. Er hat es geschafft, der Mannschaft nicht nur eine Spielidee zu vermitteln, sondern seine klare Handschrift, deutlich und markant“, schwärmte etwa der zukünftige Bayern-Trainer Carlo Ancelotti. Der frühere italienische Nationalspieler Christian Vieri, der schon im Vorjahr Vergleiche zwischen Conte und Pep Guardiola anstellte, meinte nun vor dem Achtelfinale in der „Gazzetta dello Sport“: „Ich erwarte mir einige Tricks von Conte.“
Italien gegen Deutschland am Samstag ist daher auch das Aufeinandertreffen der beiden Trainer und Taktik-Tüftler Antonio Conte und Joachim Löw. „Er leistet hervorragende Arbeit“, lobte der Bundestrainer sein Gegenüber vom Samstag. „Conte hat erkannt, dass man nur mit Catenaccio alleine kein Turnier mehr gewinnt, dass man auch ein Spiel nach vorne braucht“, sagte Löw über Italiens Stil bei dieser EM.
Derzeit machen sich Löw wie auch Conte Gedanken über ihren Matchplan. Beide tun dies heimlich, bei nichtöffentlichen Trainingseinheiten. Conte hat bei dieser EM schon mehrmals bewiesen, dass er auf dem Papier bessere Gegner mit seiner klugen Taktik auseinandernehmen kann. „Es ist kein Zufall, dass sich mit Belgien und Spanien zwei starke Nationalteams in einem bis ins letzte Detail vorbereiteten Plan verlaufen haben, einem Labyrinth ohne Ausgang“, lobte die „Gazzetta“den ehrgeizigen Perfektionisten.
Mittelfeldspieler Alessandro Florenzi urteilte über das Spiel seines Teams: „Selbst mit geschlossenen Augen wissen wir, wo wir einen Mitspieler finden können, also hat Conte großartige Arbeit gemacht.“Aktuell stehen wieder Schulungen en masse an. „Wir arbeiten hart und sehen sehr viele Videos, um die Partie so gut wie möglich vorzubereiten“, sagte nun Mittelfeldspieler Mattia De Sciglio. Einen Teil des Conte-Plans für Samstag gab der 23-Jährige vom AC Mailand bereits preis: Schnelles Spiel nach vorne nach eigenem Ballgewinn. „Sie greifen mit vielen Spielern an, wir müssen die Konzentration hochhalten und wenn wir den Ball erobern, schnell umschalten, das Spiel öffnen und nach vorne spielen“, sagte De Sciglio gestern im EMQuartier der Italiener in Montpellier.
Die Mannschaft folgt Conte bedingungslos, Konkurrenz oder Neid gibt es nicht. Lorenzo Insigne meinte: „Der Trainer übermittelt uns seine Entschlossenheit, wir folgen ihm bis ins kleinste Detail.“Und De Sciglio fügte hinzu: „Wir müssen in die Zweikämpfe gehen und um jeden Ball kämpfen. Wir haben keine Ausnahmekönner wie Spanien oder Deutschland. Wir müssen zusammenspielen, uns gegenseitig helfen und nicht aufgeben. Unsere Stärke als Team kann auch Deutschland in Schwierigkeiten bringen.“Kein Wunder, dass Italien die bislang laufstärkste Mannschaft im Turnier ist.
Der aus Apulien stammende Coach ist bekannt als Motivator und für seine martialischen Ansprachen. Vor großen Spielen fordert der 46-Jährige von seinen Mannschaften gerne „Blut, Schweiß und Tränen“. Conte sagte vor dem Turnier: „Es sind große Emotionen, eine EM als Nationaltrainer zu erleben. Großer Stolz, große Freude, große Verantwortung.“20-mal spielte er selbst für Italien und gewann als Profi mit Juventus Turin fünf Meistertitel und die Champions League. Als Coach machte er nach Stationen bei Arezzo, Bari, Bergamo und Siena dort weiter: Conte holte mit Juve drei Meisterschaften. Doch seine Leidenschaft treibt ihn nun dazu, nach nur zwei Jahren als Nationalcoach eine neue Herausforderung zu suchen: In London, beim FC Chelsea, kann er wieder täglich auf dem Platz stehen, was ihm bei der Nationalelf fehlte.
Es ist das erste Mal in der Geschichte von Italiens Nationalelf, dass der Abschied eines Trainers bereits vor einem großen Turnier feststand. Doch von Amtsmüdigkeit ist bei Antonio Conte an der Seitenlinie wahrlich nichts zu sehen.