Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Alles kann, nichts muss
Gelehrte der Universität Freiburg beschäftigen sich wissenschaftlich mit den Phänomenen des Müßiggangs
– „Nichtstun beherrsche ich schon. Da sehe ich jetzt nicht auf Anhieb einen Bedarf, dass das noch jemand erforschen müsste. Zum Beispiel mich auf dem Sofa“, sagt die fröhliche Rentnerin mit dem altmodischen Fahrrad. Die einkaufsbummelnden Menschen in der Freiburger Altstadt tun sich ein wenig schwer mit der Frage nach der wissenschaftlichen Betrachtungsweise der Muße. Während die einen mit dem Begriff überhaupt nichts anfangen können („Was für ein Gemüse?!“), vermuten die anderen hinter dem Wort das Nichtstun. Womöglich praktiziert von Taugenichtsen, die ihre Scheu vor der Arbeit kurzerhand zur Forschung erklären und somit – leger aber wohlgenährt, in der akademischen Hängematte liegend – den goldenen Nektar der Steuergelder saugen. Was jedenfalls keiner der wahllos in der Fußgängerzone angesprochenen Menschen weiß, ist, dass ein paar Hundert Meter weiter Professor Peter Philipp Riedl in einem nach Sanierung lechzenden Gebäude der Albert-Ludwigs-Universität im ersten Stock am Schreibtisch sitzt und als Projektmanager den Sonderforschungsbereich „Muße. Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken“so ernst nimmt, wie man nur kann.
60 Menschen forschen über Muße
„Wir existieren permanent in einer gelebten Paradoxie“, sagt Riedl fröhlich. Jetzt lässt er ein dickes Buch auf den Tisch fallen, dass der Boden kurz vibriert. Sich mit Muße wissenschaftlich auseinanderzusetzen, das bedeutet nämlich bisweilen Stress. So viel wird klar, wenn man sich die Mühe macht, den 400 Seiten starken Wälzer durchzublättern, der lediglich die Bewerbung für die zweite Förderphase von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) enthält. Nicht etwa die Forschung an sich. „Eigentlich hätte die 600 Seiten, aber wir haben eine kleinere Schriftgröße gewählt“, erklärt breit lächelnd Professorin Elisabeth Cheauré, die Sprecherin der Geschäftsstelle des Sonderforschungsbereichs und Mitstreiterin in Sachen Muße. Ihre wachen Augen blicken durch eine rote Brille, die eingerahmt ist von einem schwarzen Kurzhaarschnitt. Insgesamt beschäftigen sich 60 Menschen an der Universität Freiburg mit dem offenbar sehr geschäftigen Thema der Muße.
Aber worüber reden wir da eigentlich? „Es ist interessant und bezeichnend, dass es das Wort ,Muße’ nur im Deutschen gibt“, erklärt Riedl. In allen anderen Sprachen existierten lediglich Umschreibungen verschiedener Art. Sokrates hat sie zum „schönsten Besitz“erklärt. Schopenhauer meinte, „Muße ohne geistige Ausfüllung ist Tod und lebender Menschen Grab“. Weil Müßiggang wissenschaftlich betrachtet kein Zuckerschlecken oder leicht zu fassende Materie ist, bietet Professor Riedl seine Lieblingsdefinition an: „Muße ist etwas, bei dem sich alles einstellen kann, weil sich nichts einstellen muss.“Kurz hallt dieser Satz im Gehirn wider und lässt ahnen, dass es bei der Muße mit dem Nichtstun nicht getan ist. „Es gibt kaum ein anderes Forschungsprojekt, das so viele Berührungspunkte mit weiteren Fachbereichen hat“, erklärt Elisabeth Cheauré. In einzelnen Transferprojekten beschäftigen sich neben Geistes-, Sozial-, Verhaltens-, Agrar-, Forst- und Geowissenschaftlern auch Tier- und Humanmediziner mit der Muße.
Für wen das nun alles schon ein bisschen sperrig klingt, der kann es gerne noch etwas sperriger haben, zum Beispiel mit folgendem Projekttitel: „Figuren der Muße im britischen Kolonialdiskurs“. Oder auch schön: „Muße als Lebensform in der Spätantike“. Glücklicherweise gibt es neben den wenig zugänglichen Projektnamen auch sehr praxisnahe Forschungen. Etwa „Muße im Krankenhaus?“– und zwar aus Sicht der regelrecht geknechteten Assistenzärzte oder „Muße in Krankheitszeiten“. Gerade dort offenbart sich, worum es eigentlich geht: zum Beispiel um den Abstand zur Getriebenheit eines Alltags. Nicht nur freiwillig in klassischen Mußestunden, die für den einen Musikhören bei Rotwein und Zigarre bedeuten und beim anderen das bis zur Erschöpfung exerzierte Training für den Marathon. Sondern in Zeiten des gezwungenen Innehaltens, eben wenn Krankheiten den Lebensrhythmus unterbrechen. „Was passiert in diesen Zeiten erzwungener Muße?“, hat sich auch die Slawistin Elisabeth Cheauré bei ihrer Arbeit gefragt und erforscht, wie höfische Frauen im Russland des 19. Jahrhunderts quasi dazu verdammt waren, fortwährend Stickarbeiten zu leisten, um nicht auf dumme oder gar unsittliche Gedanken zu kommen. Cheauré ist zu dem Schluss gekommen, dass diese höfischen Frauen durch den Zwang zur bisweilen stumpfsinnigen Stickerei, die in Wahrheit eine Art der passiven Verwahrung gewesen sei, in geradezu meditative Zustände gefallen seien, die denkerische Freiräume und eine innere Freiheit bedeutet hätten.
Kann also so etwas wie Muße entstehen, wenn man zum Nichtstun oder zu Monotonie verurteilt ist? „Sie sehen schon, das ist nur ein möglicher Aspekt“, beeilt sich Professor Riedl zu erklären. „Es gibt noch so viele mehr.“Etwa die Erforschung des modernen Massentourismus und ob es möglich ist, an einem überfüllten Adria-Sandstrand im Zustand des ölsardinenartigen Zusammengepferchtseins so etwas wie Muße zu empfinden. Dazu sagt der Forscher: „Das ist sozusagen eine Kippfigur.“ Bis zu einem gewissen Grad ist der Trubel am Badestrand dem erholsamen Müßiggang noch förderlich. Wenn es aber zu viel wird, fällt die Muße in sich zusammen wie eine Sandburg, wenn die Flut einsetzt.
Kreativität durch Gartenarbeit
Dann ist Muße also das Gefühl, das sich einstellt, wenn man ungestört der Erholung frönt und nichts macht? „Das kann es sein, muss es aber nicht“, wirft Elisabeth Cheauré ein. Sie selbst habe die Arbeit in ihrem Garten als ideale Grundlage für Muße entdeckt. „Genau dann entfaltet sich neue Kreativität. Und es kommen neue Ideen, gerade weil sie nicht zu kommen brauchen.“
Der Sonderforschungsbereich Muße existiert seit 2013. Damals bewilligte die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Wissenschaft der Muße zum ersten Mal mit sechs Millionen Euro, verteilt auf vier Jahre. Die zweite Förderphase für die kommenden vier Jahre ist ebenfalls schon unter Dach und Fach, gefördert mit 6,5 Millionen Euro. Dass die Erforschung der Muße keineswegs ein rückwärtsgewandtes Feld ist, erklärt Riedl mit den enormen Zukunftsfragen, denen sich die Menschheit gegenübersieht: „Es wird in Zukunft immer weniger menschliche Arbeit brauchen.“Digitalisierung und Automatisierung könnten dazu führen, dass die Wochenarbeitszeit irgendwann vielleicht nur noch 20 oder gar 15 Stunden beträgt. Dazu kommt eine Gesellschaft, die immer älter wird, mit tendenziell längerer Rentenzeit. „Wir müssen uns dringend Gedanken darüber machen, wie wir diese freie Zeit füllen“, sagt Muße-Forscher Riedl. Was tut eine Gesellschaft, die vielleicht nur noch ein Drittel der heutigen Erwerbsarbeitsstunden leisten muss, um den gleichen Lebensstandard zu erhalten?
Entspannen der Leistung wegen
Andererseits laute bei steigender Anzahl psychischer Erkrankungen wie Burn-out oder Depression die Frage im Hier und Heute, ob die aktive Muße dazu beitragen kann, unseren heiß gelaufenen Leistungsgesellschafts-Motor vor dem endgültigen Durchbrennen zu bewahren. Kann man Muße lernen? Einen eindeutigen Leitfaden nach dem Prinzip der Lebenshilfe-Literatur gibt es nicht. „Und den wird es von uns auch nicht geben“, stellt Professor Riedl fest. Entsprechende Ratgeber, die regelmäßig die Sachbuchbestsellerlisten überschwemmen, gebe es zwar zuhauf. „Allerdings stehen viele letztendlich im Zusammenhang der Leistungssteigerung durch persönliche Selbstoptimierung.“Nach dem Motto „Entspanne dich, konzentriere dich“, aber nicht um deiner selbst willen, sondern damit Du noch mehr leisten kannst. Diese Denke steht im Widerspruch zum Riedl’schen Lehrsatz von der Muße, in der alles geschehen kann, weil eben nichts geschehen muss.
Ob die kommenden vier Jahre der rastlosen Menschheit durch die Freiburger Forschung neue Perspektiven für eine zeitgemäße Muße im 21. Jahrhunderts eröffnet, steht noch nicht fest. Sicher ist aber schon mal: „In Baden-Baden wird es ein ,Mußeum’ geben. Im Rahmen eines Transferprojekts beteiligen sich Fächer aus sechs Fakultäten am Aufbau dieses Museums der Literatur und Muße“, sagt Professorin Elisabeth Cheauré voller Vorfreude. Die Eröffnung ist für das Jahr 2020 geplant und damit die öffentliche Erschließung einer Disziplin, unter der jeder Mensch etwas anderes versteht. Vielleicht gelingt es den Forschern, in die Speichen unseres Hamsterrades zu greifen. Uns zum Abbremsen zu bewegen, und etwas für uns selbst zu tun. Etwas, das keinen definierten Zweck hat, außer jenem, keinen Zweck zu haben. Und dabei alles andere als zwecklos zu sein.