Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Experiment Nachbarschaft
Ein ehemaliger Bauernhof wird zum modernen Wohnprojekt – Bauplatzsuche in Städten fordert neue Lösungen
LEUTKIRCH - Zäune sind hier nicht erlaubt. Nichts trennt die Grundstücke in der Wohnsiedlung Marienhof in Leutkirch im Allgäu. Und das ist von allen Nachbarn so gewollt. Gemeinsam haben sie ihre Siedlung geplant und gebaut. Sieben Häuser stehen rund um einen Innenhof mit Brunnen. Alle haben sie dieselbe Holzverschalung, dieselbe Gartengestaltung und dieselbe Aussicht auf die grünen Felder am Rande Leutkirchs und auf die Alpen am Horizont. Alle 23 Bewohner des Marienhofs sollen sich gleich wohlfühlen.
Wo heute Familien leben, stand vor wenigen Jahren noch ein Bauernhof: der im Jahr 1956 erbaute Marienhof. 2010 entschied sich die Stadt schließlich dazu, das inzwischen nicht mehr bewirtschaftete Gelände zu verkaufen. Denn Bauplätze werden dringend gesucht, erklärt Marion Natterer von der Liegenschaftsverwaltung der Stadt: „Leutkirch ist glücklicherweise ein beliebter Wohn- und Gewerbestandort und insgesamt eine wachsende Stadt. Wie auch in vielen Nachbarstädten führt dies zu einem Nachfrageüberhang nach Wohnraum und zu gewissen Wartezeiten bei der Bauplatzoder Wohnungssuche.“Vor allem jungen Familien solle ermöglicht werden, in ihrer Heimatstadt zu bauen. Aktuell erschließe die Stadt Bauplätze im Umland. In den nächsten Jahren sollen weitere Grundstücke für Einfamilien- und Mehrfamilienhäuser in Leutkirch und in den Ortschaften folgen.
Eine Idee für zwei Probleme
Die Suche nach neuem Wohnraum ist eine Herausforderung, vor der nicht nur Leutkirch und die Städte im Allgäu stehen. Ein Ansatz, geeigneten Baugrund in oder rund um Städte zu finden, ist der Umbau leer stehender Bauernhöfe zu Wohnhäusern oder sogar zu ganzen Siedlungen. „Das kann im Einzelfall eine gute Nachnutzung für ehemals landwirtschaftlich genutzte Gebäude sein“, sagt Natterer. Davon ist auch der Leutkircher Architekt Edwin Heinz überzeugt. Er hat die MarienhofSiedlung entworfen. Der Umbau eines alten Bauernhofgeländes sei die ideale Lösung für zwei Probleme: Brachliegende Grundstücke werden genutzt und die Stadt mit nachbarschaftlichen Projekten für Familien erweitert. „Ich könnte es mir gut vorstellen, dass sich noch mehr Gemeinden auf diese Weise erweitern. Ich selbst möchte das Modell auf jeden Fall weiterverfolgen.“Bereits 2008 entdeckte der Architekt das ungenutzte Marienhof-Gelände am Rande der Stadt. Er fand es schade, dass der Hof sich selbst und dem Verfall überlassen wurde. Bald begann er also damit, sich ein Bebauungskonzept zu überlegen, das sich in das Gelände einfügen sollte.
Jedoch war das Grundstück von Anfang an zu groß für ein einzelnes Haus. Die Idee einer Bauherrengemeinschaft und einer in sich geschlossenen Siedlung entstand. bereits 2009 reichte er die ersten Skizzen einer solchen Siedlung bei der Stadt ein. Gerade Linien, leicht schräge Pultdächer und die auf Lücke angeordneten Häuser bestimmen heute die inzwischen Realität gewordene Siedlung.
Wie viele Bauernhöfe in BadenWürttemberg derzeit umgenutzt werden, ist dem Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau nicht bekannt. Allerdings sei diese Umnutzung eine geeignete Lösung für Städte, sagt Ministeriumssprecher Arndt Oschmann: „Wenn die aufgegebenen Bauernhöfe oder die landwirtschaftlichen Stall- und Lagergebäude im Innenbereich von Gemeinden liegen, ist die Umnutzung und der Ausbau oder auch der Neubau anstelle der nicht mehr genutzten Gebäude eine gute Möglichkeit der innerörtlichen Entwicklung. Insbesondere zugunsten des Wohnungsbaus.“
Dabei müsse allerdings das Baugesetzbuch genau beachtet werden. Höfe lägen nämlich oft im sogenannten planungsrechtlichen Außenbereich einer Stadt. Dieser Außenbereich soll im Interesse von Natur, Landwirtschaft und Erholung in der Regel von Bebauung frei gehalten werden, erklärt Oschmann. „Die Gemeinden haben aber die Möglichkeit, die betreffenden Grundstücke in die kommunale Bauleitplanung einzubeziehen. Dies war beispielsweise für die Neubebauung des ehemaligen Marienhofs in Leutkirch erforderlich.“
Wie ein kleines Dorf
Doch besonders überzeugt habe die Stadt Leutkirch der Aspekt der gemeinschaftlichen Planung der neuen Siedlung, sagt Marion Natterer. Und auch für die sechs Bauherren war die Idee der gelebten Nachbarschaft für den Kauf eines Grundstückes schließlich entscheidend. So auch für die Familie Günthner. Sie sind die einzigen Bauherren, die nicht aus der Region rund um Leutkirch stammen. „Es war für uns total wichtig, gleich Anschluss zu bekommen“, erzählt Petra Günthner. Der Marienhof funktioniere wie ein kleines Dorf: „Wir helfen einander. Sei es, wenn einer aus Versehen den Schlüssel stecken lässt und die anderen gleich Bescheid sagen oder wenn man ein Gartengerät braucht und der Nachbar aushelfen kann.“Die Wege sind kurz. Auch für die acht Kinder, die im Marienhof leben. Da der Innenhof keine Durchfahrtsstraße bildet, können sie ungestört Ball spielen oder mit Kreide malen. „Eigentlich ist immer jemand draußen und wir treffen uns dann spontan, vor allem zum Fußball spielen“, erzählt der neunjährige Julian. Auch die Erwachsenen treffen sich immer wieder spontan im Innenhof. Besonders beliebt: selbst gemachte Marillenmarmelade gegen frisch gebackenen Zwetschgenkuchen austauschen. Die Früchte stammen von den 33 gemeinsamen, noch kleinen Obstbäumen, die auf dem insgesamt 4600 Quadratmeter großen Gelände wachsen.
Freiwillige Nachbarschaft
Der Innenhof und die Zufahrt sind gemeinsamer Raum. Doch jede Familie hat ihren Rückzugsort und das werde von den Nachbarn natürlich jederzeit respektiert, versichern die Marienhofler. „Die Nachbarschaft funktioniert so gut, weil nichts erzwungen ist, sondern es sich ganz natürlich entwickelt hat“, erzählt Nachbarin Ulla Praschak. Neben der Gemeinschaft schätzen sie und ihr Mann vor allem auch die Ruhe, die die gleichmäßige Architektur der Siedlung ausstrahlt.Diese Ruhe wird hin und wieder durch gemeinsames Feiern unterbrochen: Rein rechnerisch hat alle zwei Wochen im Marienhof jemand Geburtstag. Darum stehen auch an diesem Nachmittag in den Sommerferien Tische und ein Pavillon im Innenhof. Immer ist die Außenwand des ehemaligen Stallgebäudes der Treffpunkt. Das hat sich in den vergangenen Jahren so eingespielt. Dass der Stall vom alten Bauernhaus erhalten blieb und nicht das Wohngebäude, sei eher ungewöhnlich, sagt Architekt Heinz. Denn den Stall umzubauen sei wesentlich komplizierter gewesen als ein Wohngebäude. „Wir mussten natürlich den ganzen Salpeter aus den Wänden und Böden bekommen, damit das Haus bewohnbar wurde“, erklärt Heinz. Durch die Kühe, die einst im Stall lebten, setzte sich der Kuhurin im Mauerwerk ab. Heute wohnen zwei Mietparteien im ehemaligen Stallgebäude, das einzige im Marienhof mit Sattel- statt Pultdach, so wie das ehemalige Stallgebäude.
Etwas mehr als vier Millionen Euro hat der Kauf, die Erschließung und die Bebauung des Marienhofs gekostet. Die Kosten wurden je nach Grundstücksgröße auf die Bauherren umgelegt. So sei ein Grundstück im Marienhof nicht teurer als ein Grundstück irgendwo anders in der Region, sagt Architekt Heinz. Auch die Stadt gehe davon aus, dass die Kosten vergleichbar mit denen anderer kleiner Baugebiete in Leutkirch seien, sagt Marion Natterer. Und Architekt Heinz ist stolz darauf, dass seine Idee des nachbarschaftlichen Wohnens im Marienhof Realität wurde: vom ungenutzten Bauernhof zur lebendigen Nachbarschaft.