Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Chaos in Katalonien
Regionalregierung lässt illegal über Abspaltung von Spanien abstimmen – Polizei setzt Gummigeschosse ein
BARCELONA - Trotz eines massiven Polizeiaufgebots und des Einsatzes von Gummigeschossen haben Tausende Menschen am Sonntag bei einem verbotenen Referendum für die Unabhängigkeit der spanischen Region Katalonien ihre Stimme abgegeben. Ein Kompromiss mit der Regierung in Madrid ist nicht in Sicht.
Schon im Morgengrauen hatten sich die Menschen in Sant Julià de Ramis vor ihrem Wahllokal in der Gemeindehalle versammelt. Hier wollte der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont seine JaStimme für die Unabhängigkeit in die Urne werfen. In dem Dorf mit 3000 Einwohnern, rund eine Autostunde nordöstlich der Regionalhauptstadt Barcelona, hat Puigdemont seinen Wohnsitz.
Doch der Anführer der katalanischen Separatisten kam nicht dazu, in seinem Heimatort zu wählen. Kurz nach Öffnung des Wahllokals um neun Uhr morgens beendete eine Einsatzhundertschaft der spanischen Guardia Civil, eine paramilitärische Polizeieinheit Spaniens, die Dorfruhe. Doch als die Polizisten Wahlurnen und Wahlzettel beschlagnahmen wollten, sahen sie sich mehreren Hundert Bürgern gegenüber, die sich vor der Tür des Wahllokals aufgebaut hatten.
Kämpferischer Gesang
Die Männer und Frauen, von denen manche ihre Kinder mitgebracht hatten, hakten sich unter und sangen die katalanische Hymne. Ein kämpferisches Lied, in dem das „triumphierende Katalonien“gepriesen wird. Dann hoben die Menschen ihre Hände hoch, um den Beamten zu zeigen, dass sie unbewaffnet und friedlich seien. Und sie riefen trotzig: „Wir werden wählen.“
In diesem Fall konnten sie es aber nicht: Einer nach dem anderen wurde von den Beamten weggezogen oder weggetragen. Dann holten die Polizisten einen Vorschlaghammer, denn Aktivisten hatten die Glastür des Wahllokals von innen verrammelt. Glas splitterte, Sekunden später war das Loch groß genug, dass sich einige Polizisten hindurchzwängen konnten.
Kurz darauf transportierten die Sicherheitskräfte jene Objekte ab, die es nach einem Verbot des spanischen Verfassungsgerichts dort nicht geben durfte: weißgraue Plastikboxen mit schwarzem Deckel, die als Wahlurnen benutzt werden sollten. Zudem Laptops, die zur Wählererfassung und Stimmauszählung dienen sollten. Und braune Kartons mit weißen Stimmzetteln. Auf den Zetteln prangte jene Abstimmungsfrage, die das Gerichtsverbot bewirkt hatte: „Wollen Sie, dass Katalonien ein unabhängiger Staat in Form einer Republik wird?“
Puigdemont, der sich geweigert hatte, das Gerichtsverbot anzuerkennen und die Bevölkerung dazu aufgerufen hatte, ihre „Stimme für die Demokratie“abzugeben, wich wegen des Polizeieinsatzes in seinem Heimatdorf in den Nachbarort Cornellá de Terri aus. Dort konnte der Anführer des katalanischen Aufstandes, gegen den wegen Rechtsbeugung und Rebellion ermittelt wird, am Sonntagvormittag unbehelligt sein Kreuzchen auf dem Stimmzettel machen.
Dann baute sich Puigdemont vor den Mikrofonen auf und heizte, wie schon in den letzten Tagen, die Stimmung an: Er sprach von der „Brutalität der Polizei“, die gegen Menschen vorgehe, „die friedlich demonstriert haben“und „in Freiheit über ihre Zukunft abstimmen wollen“. All das zeige doch das wahre Gesicht der spanischen Zentralregierung in Madrid, die mit „Repression“versuche, das katalanische Volk zum Schweigen zu bringen.
Damit kommentierte Puigdemont Szenen, wie sie sich in anderen katalanischen Städten abspielten, etwa in Girona oder in Barcelona. Dort verschafften sich Einsatztrupps der spanischen Nationalpolizei mit dem Schlagstock Zugang zu Wahllokalen und prügelten nach Zeugenaussagen auf jene Menschen ein, welche die Eingänge blockierten.
Mitten in Barcelonas Innenstadt, unweit der von Touristen viel besuchten Basilika Sagrada Família, eskalierte die Lage, als Nationalpolizisten Urnen aus einem Wahllokal in der Schule „Ramon Llull“abtransportieren wollten. Hunderte Demonstranten kreisten die Beamten ein, die daraufhin Gummigeschosse abfeuerten. Ein Mann sei durch eine Gummikugel am Auge schwer verletzt worden, hieß es. Insgesamt wurden nach Angaben der katalanischen Regierung mehrere Hundert Menschen verletzt. Unter ihnen waren auch Polizisten.
Die Regionalregierung in Barcelona erklärte zudem, dass trotz Gerichtsverbotes und massiver Polizeieinsätze 73 Prozent aller etwa 2300 Wahllokale am Sonntagvormittag geöffnet worden seien. Vor vielen bildeten sich lange Schlangen von Wahlwilligen. In den meisten Orten, vor allem in der Provinz, konnte offenbar friedlich und unbehelligt von der Polizei abgestimmt werden.
Die Sicherheitskräfte setzten indes während des ganzen Tages ihre Operationen fort, meist in den größeren Städten. Mancherorts glich dies einem Katz-und-Maus-Spiel, wie etwa in einem Wahlbüro in der Stadt Lleida. Kaum waren die Beamten wieder fort, tauchten dort neue Urnen und Wahlzettel auf.
Mehrfachabstimmungen möglich
Ein Sprecher der katalanischen Regierung räumte ein, dass vielerorts improvisiert werden musste. Da die Polizei in den letzten Tagen Millionen Wahlzettel beschlagnahmt hatte, brachten viele Bürger ihre Stimmzettel, die sie im Internet ausgedruckt oder sich andernorts besorgt hatten, von zu Hause mit.
Ein funktionierendes Wählerverzeichnis gab es ebenfalls nicht, da jeder in jedem beliebigen Wahllokal wählen durfte und die Polizei das zentrale Wahlrechenzentrum außer Gefecht gesetzt hatte. Kontrollen, ob jemand mehrfach abstimmte, waren also nicht möglich.
Doch auch durch diese widrigen Umstände wollen sich die Separatisten, die laut Umfragen bisher keine Mehrheit der Katalanen hinter sich haben, nicht beirren lassen. Schon bevor das Abstimmungsergebnis, das kaum als repräsentativ gelten kann, feststeht, sieht sich Kataloniens Regierungschef Puigdemont als Sieger: „Wir haben bereits gewonnen. Wir haben die Ängste, die Drohungen, den Druck und die Lügen besiegt.“
Ganz anders äußerte sich Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy am Abend in Madrid: Der spanische Staat habe bewiesen, dass er „mit allen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln auf jedwede Provokation“reagieren könne. In Katalonien, so Rajoy, habe es „kein Referendum, sondern eine Inszenierung“gegeben.