Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Österreich vor Rechtsruck
Das Parlament verteilt kurz vor der Wahl Milliardengeschenke, die Spitzenkandidaten geben sich versöhnlich
WIEN (dpa) - Fünf Monate nach dem Bruch der rot-schwarzen Koalition wählen die Österreicher am Sonntag vorzeitig ein neues Parlament. Nach aktuellen Umfragen gilt ÖVP-Spitzenkandidat Sebastian Kurz als Favorit. Der 31-Jährige könnte somit zum jüngsten Regierungschef Europas werden. Auch wird der rechtspopulistischen FPÖ mit Parteichef HeinzChristian Strache ein Ergebnis auf Rekordniveau zugetraut.
WIEN - Die meisten Beobachter erwarten für die Nationalratswahl am Sonntag in Österreich einen Rechtsrutsch mit dem jüngsten Kanzler aller Zeiten, der die rot-schwarze Dauerkoalition unter sich begräbt. Nur eine Überraschung in letzter Minute könnte dies verhindern.
Zum Schluss gab es noch ein großes Wahlzuckerl. Drei Tage vor der Wahl beschloss der Nationalrat ein Maßnahmenpaket von einer halben Milliarde Euro: Mehr Geld für die kleinen Rentner, kostenloser Internatsaufenthalt für Lehrlinge, die rechtliche Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten, finanzielle Unterstützung und besserer Rechtsbeistand für Behinderte am Arbeitsmarkt, besserer Schutz für Patienten in Pflegeheimen und anderes mehr.
Wechselnde Mehrheiten gefunden
Dieses Paket enthält Lösungen, die jahrelang an wechselseitigen Blockaden in der rot-schwarzen Koalition scheiterten. Seit Ausrufung der Neuwahl im Sommer herrscht im Parlament das „freie Spiel der Kräfte“, wie es Kanzler Christian Kern (SPÖ) genannt hat. Die Fraktionen haben für ihre Themen wechselnde Mehrheiten gesucht – und gefunden.
Zur Überraschung vieler Beobachter gab es zum Wahlkampffinale erstaunlich sachliche, ja sogar versöhnliche Töne in der letzten TV-Debatte der fünf Spitzenkandidaten. Nach einer Schlammschlacht, die das politische Klima vergiftet zu haben schienen, gab es wie gewohnt keinerlei Koalitionsaussagen, dafür aber Vorschläge, um den Reformstau zu lösen. „Diesen Wahlkampf hätten wir uns ersparen können“, sagte Bundeskanzler Kern und nahm seine SPÖ nicht aus, welche die Schmutzkampagne gegen den konservativen ÖVP-Kandidaten Sebastian Kurz zu verantworten hat.
Der Nationalrat wird nach dem 15. Oktober deutlich anders aussehen als zuletzt (die Mandatsverteilung hat sich seit der letzten Wahl 2013 wegen mehrerer Fraktionswechsel leicht verändert): SPÖ und ÖVP hatten je 51 Sitze, die rechte FPÖ 38, die Grünen 21, die liberalen NEOS 8, Fraktionslose 14.
Die stärkste Zäsur dürfte die SPÖ erfahren: Die Ära der roten Kanzler, die seit 1970 mit nur sechs Jahren Unterbrechung andauert, dürfte an diesem Sonntag enden. Favorit auf den Kanzlersitz ist der neue ÖVP-Chef Kurz. Dem erst 31-jährigen Außenminister kommt die Formulierung: „Sollte ich der nächste Kanzler werden …“erstaunlich locker über die Lippen.
Kurz warb am Freitag bei einer Schlusskundgebung in Wien einmal mehr für sein Programm „der grundlegenden Veränderung des politischen Systems in Österreich“. Auf die scheinbar sichere Variante einer ÖVP/FPÖ-Koaliton wollen sich Meinungsforscher dennoch nicht festlegen. „Es kann“, so der Politologe Peter Filzmaier, „durchaus Überraschungen geben.“So zeigen neueste Trends, dass die Kanzlerpartei SPÖ aufholt; sie lag lange Zeit bis zu neun Prozentpunkte hinter der ÖVP. Kurz dürfte zwar seine Spitzenposition behaupten, aber nicht mehr so überlegen gewinnen.
Analysen besagen, dass Schmuddelkampagnen die Wähler wenig beeinflussen, was der SPÖ zugute käme. Demnach könnte die FPÖ ihr Ziel, zweistärkste Partei zu werden, verfehlen. Was aber die Chance ihres Kandidaten Heinz-Christian Strache auf Regierungsbeteiligung nicht schmälert.