Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Ungarns Epochen-Erzähler
Der ungarische Schriftsteller Peter Nadas wird heute 75 Jahre alt
BUDAPEST (dpa) - Im Alter von zwölf Jahren, auf dem Höhepunkt der stalinistischen Säuberungen in seiner Heimat Ungarn, die auch seine linientreuen Eltern erfassten und den Vater in den Suizid trieben, schwor sich Peter Nadas: „Ich werde alles, wirklich alles niederschreiben, was die Menschen voreinander verschweigen.“An diesem Samstag wird der Schriftsteller 75 Jahre alt.
Die Episode findet sich im jüngsten Werk von Nadas mit dem Titel „Aufleuchtende Details“, das soeben bei Rowohlt in der Übersetzung von Christina Viragh erschienen ist. Die 1280 Seiten umfassen nicht nur seine Autobiografie, sondern auch, wie der ungarische Kunsttheoretiker Laszlo Földenyi feststellt, „die bisher noch nicht geschriebene Geschichte der Zeit von 1942 bis 1956“in Ungarn.
Es ist die Zeit, in der die kommunistische Diktatur mit Terror und Berufsverboten das Leben Zehntausender Familien zerstörte. Es ist eine Zeit, die über Netzwerke der Macht „heute fortlebt und wahrscheinlich auch in der Zukunft fortleben wird“, analysiert Földenyi. Nadas hat sie aufgeschrieben – nicht chronologisch, sondern indem er dem assoziativen Fluss der Erinnerung folgte.
Nadas wurde am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren. Den Holocaust überlebte er mit seiner Familie in Verstecken. Die Mutter verlor er früh. Er wurde zunächst Journalist, arbeitete bei Zeitungen, ehe er sich nur noch dem Schreiben widmete.
Nadas’ Schreibweise fand im kommunistischen Ungarn nur zögerlich Anerkennung. Im deutschen Sprachraum feierte der Ungar mit dem aus drei subtil miteinander verschränkten Erzählsträngen konstruierten „Buch der Erinnerung“(dt. 1991) den Durchbruch, auch dieses bereits ein Opus von 1300 Seiten. Es folgten der Essayband „Von der himmlischen und der irdischen Liebe“, der Roman „Der Lebensläufer“und der grotesk-verspielte Liebesroman „Die schöne Geschichte der Photographie“. 2012 veröffentlichte Nadas den Roman „Parallelgeschichten“. 18 Jahre hatte er daran gearbeitet, sechs Jahre investierte Christina Viragh in die deutsche Übersetzung.
Desillusioniert über Politik
Nadas ist kein weltentrückter Schriftsteller. In Essays nimmt er zu Zeitfragen Stellung. Besonders das Scheitern seines Heimatlandes nach der demokratischen Wende erfüllt ihn mit Wehmut. Nach sozial-liberalen Regierungen, die verantwortungslos wirtschafteten, herrschen heute die Rechtspopulisten, sind rechter Radikalismus und Antisemitismus salonfähig geworden. „Die neue autoritäre Tradition Ungarns ist aus dem Geist der Provinz geboren; ihre Basis sind Stämme und Clans; die Republik interessiert sie nicht; ihre Affinität zu den Menschenrechten ist schwach ausgeprägt“, schrieb Nadas desillusioniert.