Schwäbische Zeitung (Tettnang)
FDP lässt Jamaika platzen
Parteien können sich nicht einigen – SPD schließt Große Koalition aus
BERLIN/NÜRNBERG (dpa/AFP) Das lange Warten auf eine Einigung war vergeblich: Die FDP hat am späten Sonntagabend die Jamaika-Verhandlungen abgebrochen. „Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, sagte FDP-Chef Christian Lindner nach stundenlangen Verhandlungen in Berlin. Es sei zwischen Union, FDP und Grünen zu keiner Vertrauensbasis gekommen.
Zwar bekannten sich die JamaikaUnterhändler unisono zur Verantwortung für das Land, am Ende waren die Gräben aber wohl zu tief. Die Verhandlungen sollten eigentlich bis 18 Uhr abgeschlossen sein, gingen dann aber in die Verlängerung. Zentraler Streitpunkt war das Thema Migration. CDU, CSU und FDP wollen eine Begrenzung der Zuwanderung. Die Grünen wollten dies hingegen nicht, erklärte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer im ZDF. Um diesen Punkt habe es neben den Themen Klima, Energie und Finanzen die größten Diskussionen gegeben. Dabei schien eine Einigung greifbar: Nach CSU-Angaben hätte man sich darauf verständigt, den Solidaritätszuschlag bis 2021 schrittweise abzuschaffen. Auch hätte man sich darauf geeinigt, die Maghreb-Länder als sichere Herkunftstaaten einzustufen. Kurze Zeit später ruderte die CSU jedoch zurück.
Die Große Koalition von Union und SPD hatte den Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus 2016 für zwei Jahre bis zum März 2018 ausgesetzt. Die Grünen verlangten, dass er anschließend wieder zugelassen wird. CDU, FDP und vor allem CSU lehnten dies ab. Teilnehmerkreise machten am Rande der Sitzung darauf aufmerksam, dass die Grünen in diesem Streitpunkt in einer relativ komfortablen Lage seien. Denn sollten sich die Jamaika-Parteien nicht verständigen können und Neuwahlen nötig sein, werde von März 2018 an automatisch die alte Rechtslage mit unbegrenztem Familiennachzug auch für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus wieder in Kraft treten.
Eine Einigung insgesamt war Voraussetzung für die Aufnahme formeller Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen. Bereits am Sonntagnachmittag hatte SPD-Parteichef Martin Schulz kategorisch ausgeschlossen, dass sich seine Partei angesichts der verfahrenen Situation doch noch an einer neuen Regierung beteiligen könnte. Zugleich warf er den Jamaika-Verhandlern einen Mangel an Seriosität und staatspolitischer Verantwortung vor.
Sein klares Nein zu einer Fortsetzung der Großen Koalition begründete Schulz vor allem mit dem Wählerwillen. „Die Wähler haben bei der Bundestagswahl die Große Koalition abgewählt. Sie hat knapp 14 Prozent verloren. Das ist ein klarer Auftrag an die Parteien, die eine parlamentarische Mehrheit haben, eine Regierung zu bilden“, sagte der Parteivorsitzende der SPD.
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BERLIN - Begleitet von einem Pfeifkonzert betritt der grüne Sondierer Jürgen Trittin am Sonntagmittag die baden-württembergische Landesvertretung. Die Pfiffe und Buhrufe gelten nicht etwa Trittins Verhandlungsstrategie, sondern die Lausitzer Kohelkumpel der IG Bergbau und Chemie machen gegen den Ausstieg aus der Braunkohle mobil.
„Der ,Tatort‘ wird dieses Mal aus der Landesvertretung gesendet“schreibt der Berliner Journalist Markus Decker. Er steht, zusammen mit 100 anderen Kollegen im kalten Novemberregen vor der Landesvertretung, alle warten auf Ergebnisse. Durch die Fenster sieht man den Bankettsaal, in dem sich die große Runde trifft, in den oberen Räumen tagt die kleine Runde der Parteichefs. Angela Merkel rennt aufgeregt die Treppe hinauf und hinunter. Um 18 Uhr, eigentlich dem geplanten Ende der Sondierung, schaut Julia Klöckner vorbei. Ob sie noch auf einen guten Ausgang hofft? „Na, Sie stehen doch auch noch alle hier herum“, sagt sie zu den Journalisten. Sie sei grundsätzlich optimistisch. „Man muss sich zusammenreißen und was hinbekommen.“
Özdemir beschwört Verhandler
Mit großen Worten, fast etwa pathetisch, beschwört Grünen-Chef Cem Özdemir die Verhandler schon am Vormittag. Er erinnert an die europäischen Aufgaben und sagt, die Parteien sollten sich aus Verantwortung bewegen, „nennen Sie es Patriotismus“. Grünen-Sondierer Reinhard Bütikofer, der sonst gerne Konfuzius zitiert, twittert am Mittag Ludwig Uhland. „Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz.“Vielleicht färbt ja die Umgebung der Landesvertretung ab.
CDU-Landesgruppenchef Andreas Jung hoffte schon am Freitag, der Weg zu Jamaika führe über BadenWürttemberg. Hier sei es gelungen, über große Schatten zu springen. Die CDU habe im Klimabereich weitgehend die Grünen mitgetragen, die Grünen die CDU in der Frage der inneren Sicherheit. Entsprechend diesem Modell hofft er, dass bei Jamaika in Berlin am Ende grüne Energie und eine schwarze Null stehen könnten.
Doch es ist das Thema Flüchtlinge, bei dem es bis zuletzt hakt. CSU-Chef Horst Seehofer will Humanität und Ordnung mit einer Begrenzung der Zuwanderung verknüpfen. Die Grünen kommen zwar mit einem Kompromissangebot der CSU entgegen und können sich eine atmende Grenze bei rund 200 000 Flüchtlingen im Jahr vorstellen. Aber den Familiennachzug halten sie für unverhandelbar. Die FDP wiederum springt der CSU zur Seite, sie will den Familiennachzug für weitere zwei Jahre aussetzen und hält einen Nachzug in Einzelfällen über ein neues Einwanderungsrecht für denkbar, wenn die Flüchtlinge Arbeitsplätze haben. Dass die FDP der Union so stark beisteht, ärgert die Grünen. Die FDP lässt die Muskeln spielen. „Wir sind da als Freie Demokraten relativ gelassen“, sagt Generalsekretärin Nicola Beer, aber man werde sich nicht verbiegen. Viele Liberale ärgern sich über den Grünen Jürgen Trittin, besonders Wolfgang Kubicki. Die Grünen sollten Trittin doch gleich an den Verhandlungstisch holen, da er ja ohnehin entscheide, sagt Kubicki.
Grünen-Chefin Simone Peter wiederum ist verschnupft über die Union. Klimakompromisse, die schon erreicht waren, seien teilweise wieder aufgemacht worden. Darin geht es vor allem um den Verzicht auf sieben Gigawatt aus der Kohleverstromung, wo die NRW-CDU ein Veto einlegte. „Keine Angst vor Minderheitsregierung“ermutigt unterdessen Christian Ströbele per Twitter seine Grünen. „Wir haben gezeigt, dass wir starke Nerven haben“, sagt Grünen-Geschäftsführer Michael Kellner am Abend.
Doch es zeigt sich, dass noch immer ein Leitgedanke, eine große Überschrift für Jamaika fehlt. „Jamaika kann nur gelingen, wenn es eine tragende Idee gibt“, sagt FDPSondierer Michael Theurer. Für ihn könnte das die Verzahnung von Ökologie und Ökonomie und sozialen Aspekten sein.
Für Seehofer ist entscheidend, dass man neben dem Soli und einer Einkommenssteuerreform auch eine starke Förderung von Familien und Kindern bekommt. Er spricht von einer „Sondierung de luxe“, die schon sehr in die Tiefe gehe. Diese Tiefe kostet die Verhandler Zeit und Kraft. „Wir haben einiges erreicht“, sagt CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer. „Aber drei Parteien wollten eine Begrenzung der Zuwanderung, die Grünen wollen das nicht.“