Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Der schwarze Riese
Helmut Kohl verstirbt am 16. Juni mit 87 Jahren – Machtmensch und überzeugter Europäer
BERLIN - Länger als jeder andere Kanzler hat er Deutschland regiert. Deutschland ohne Helmut Kohl – das war für eine ganze Generation unvorstellbar. 16 Jahre lang führte er das Land – und es waren gute Jahre, in denen 1990 der schon aufgegebene Traum der deutschen Wiedervereinigung realisiert werden konnte. „Wir sind Glückskinder“, sagte Helmut Kohl später häufig. Dass es maßgeblich seine Leistung war, im richtigen Moment zuzugreifen, sagte er nicht. Aber alle wussten es.
So war Helmut Kohl in den letzten Jahren seines Lebens bereits eine Art lebendes Denkmal. So krank er auch war, er genoss das Ansehen sichtlich. „Mein Leben, das war ein engagiertes Leben, ereignisreich, erfüllt, ein Leben mit viel Höhen und auch mit sehr viel Tiefen. Ein Leben mit viel Verantwortung und viel Gestaltungsmöglichkeiten. Also ein Leben, von dem ich sagen darf: Es hat einen Sinn gehabt.“
Sturz und Schädel-Hirn-Trauma
Helmut Kohls Bild ist vielen Deutschen äußerst präsent, auch wenn er in den letzten Jahren nicht mehr häufig in der Öffentlichkeit auftrat. Nach seinem Sturz 2008 mit dem anschließenden Schädel-Hirn-Trauma konnte er sich nur noch mühsam verständigen und war auf die Hilfe seiner Frau Maike Kohl-Richter angewiesen. Doch immer noch, immer wieder, trieb es ihn in die Öffentlichkeit. „Aus Sorge um Europa“, heißt eines seiner letzten Werke. Angesichts der Euro-Schuldenkrise bangte er um sein politisches Vermächtnis, kritisierte auch Angela Merkels Außenpolitik, forderte eine standfestere und überzeugtere Europapolitik.
Mit 87 Jahren ist Helmut Kohl in seinem Bungalow in LudwigshafenOggersheim gestorben, wo die Gemeinde um ihren Großen trauert. Um einen bodenständigen Einwohner, dessen Verdienste als Kanzler der Einheit und überzeugter Europäer die dunklen Seiten des „Systems Kohl“, die traurigen Kapitel der Spendenaffäre, längst überstrahlen.
Der Vater blieb fremd
In den letzten Jahren freilich wurde mehr über Helmut Kohls Privatleben als über seine historischen Verdienste gesprochen. Erst erschütterte der Selbstmord seiner Frau Hannelore 2001 die Republik. Die Frau, die jeder in Deutschland so genau zu kennen glaubte, und die doch so unglücklich alleine in Oggersheim ihr Leben fristete, die wegen ihrer Lichtallergie zum Schluss nur noch nachts unterwegs sein konnte. Seine Söhne gewährten später Einblick in das nach außen als so perfekt dargestellte Familienleben der Kohls, bei dem doch der Vater so fremd blieb, so fern war.
In den letzten Jahren schirmte ihn seine über 30 Jahre jüngere Frau Maike Kohl-Richter, die er 2008 in der Kapelle einer Rehaklinik heiratete, von vielen alten Vertrauten, wohl auch von seinen Söhnen, ab. Als „gefesselter Riese“hat Österreichs ehemaliger Bundeskanzler Wolfgang Schüssel den im Rollstuhl sitzenden Helmut Kohl einmal bezeichnet.
Provinzler aus Oggersheim
Als „schwarzer Riese“wurde der über 1,90 Meter große Mann am Anfang seiner Karriere bekannt, als er 1982 mit dem Versprechen auf eine geistig-moralische Wende den SPDKanzler Helmut Schmidt ablöste. Damals wurde er als Provinzler aus Oggersheim verspottet. CSU-Chef Franz Josef Strauß sprach ihm die Eignung als Kanzler ab – und doch wurden es 16 Jahre Kanzlerschaft. Für den Regierungswechsel 1982 hatte Hans-Dietrich Genscher mit seiner FDP gesorgt. Jener Mann, der später als Außenminister in so wichtigen Besuch in Ellwangen: Das Foto zeigt ihn im Jahr 1983 mit Bischof Georg Moser. Mit US-Präsident Bush verband ihn ein Vertrauensverhältnis. Zeiten Helmut Kohl zur Seite stand. Die Bundesrepublik war 1989 vor Beginn der entscheidenden Veränderungen „außenpolitisch aufgestellt, wie es besser nicht hätte sein können“, sagte Genscher später einmal. Kohl galt als überzeugter Europäer und als zuverlässiger Verbündeter der USA gleichzeitig. Schon 1984 hatte er mit Frankreichs Präsident François Mitterrand zusammen die Abschaffung der Grenzkontrollen in der Europäischen Gemeinschaft propagiert – sich für ein offenes Europa starkgemacht. Beide Seiten, der Einheitskanzler und der überzeugte Europäer Kohl, gehörten zusammen. Denn nur ein unzweifelhafter Europäer wie Kohl konnte 1989 und 1990 die Ängste der Nachbarländer vor einem Wiedererstarken Deutschlands überwinden und sich gegen Skeptiker wie Margaret Thatcher, die Deutschland so „liebten“, dass sie lieber zwei davon hatten, durchsetzen.
Freund der Freiheit
Auch mit den US-Präsidenten Ronald Reagan und dessen Nachfolger George Bush verband Kohl ein festes Vertrauensverhältnis. Als „wahren Freund der Freiheit“lobte ihn Bush, der an Kohls Seite war, als die deutsche Einheit verhandelt wurde. Und, was damals mindestens genauso wichtig war, Kohl hatte ein gutes, später freundschaftliches Verhältnis zum sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow aufgebaut.
Als Kohl am 9. November 1989 die Nachricht von der Öffnung der Mauer erhielt, entschied er schnell, dass er nach Berlin gehöre. Seinen sogenannten Zehn-Punkte-Plan diktierte er – ohne Abstimmung mit Außenminister Genscher – seiner Frau Hannelore in die Schreibmaschine. Als politisches Ziel wurde darin die Wiedervereinigung festgehalten. Er erklärte aber auch, dass die Europäische Gemeinschaft die Offenheit für reformorientierte Staaten des Ostblocks und natürlich auch für die DDR wahren müsse, er setzte sich für das Projekt Osterweiterung ein. Punkt zehn war der wohl wichtigste Punkt: die deutsche Wiedervereinigung.
„Wir sind ein Volk“
Am 19. Dezember 1989 steht er erneut vor einer unüberschaubaren Menschenmenge, dieses Mal in Dresden: Der Vorplatz der Frauenkirche war von Tausenden von Menschen gesäumt. Die meisten mit schwarz-rotgoldenen Fahnen ohne Hammer und Sichel. „Wir sind ein Volk.“Schon wenige Wochen später, im Februar 1990, bezeichnete Michail Gorbatschow die deutsche Vereinigung als „Sache der Deutschen“, während sein Außenminister Eduard Schewardnadse mit Genscher schon den Rahmen für die Verhandlungen über die deutsche Einheit besprach. Die beiden deutschen Staaten sollten mit den für Deutschland verantwortlichen Mächten USA, Frankreich, Großbritannien und Sowjetunion sprechen, die berühmten „Zwei-plusVier-Verhandlungen“begannen. Die deutsche Einheit wurde vollendet.
Innenpolitisch war Helmut Kohls Ära zum Schluss ohne Dynamik, wichtige Reformen im Arbeits- und Sozialbereich fanden nicht statt. Doch Helmut Kohl übergab sein Amt nicht, er überschätzte sich, als er auch 1998 noch einmal antrat. Die SPD mit Gerhard Schröder, die endlich frischen Wind versprach, siegte.
Was bleibt, sind Kohls Verdienste um die deutsche Einheit. „Es bleibt Kohls herausragende Leistung, in historisch einzigartiger Situation das einzig Richtige getan zu haben“, lobt Angela Merkel Helmut Kohl.
Kohls blaue Strickjacke, die er im Oktober 1990 bei seinem Besuch bei Gorbatschow im Kaukasus trug, hängt heute im Haus der Geschichte in Bonn. Helmut Kohl selbst ist jetzt Geschichte. Große Geschichte.