Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Deutsches Recht zum Eingewöhne­n

Bei Rechtskurs für Flüchtling­e prallen Welten aufeinande­r: Staatliche Gesetze sind für viele neu

- Von Kristina Staab

LINDAU - Ein Klassenzim­mer im ersten Stock der Lindauer Berufsschu­le: Jugendlich­e wuseln durch den Raum, reden miteinande­r, suchen sich einen Platz. Gespannt warten sie darauf, was auf sie zukommt. Denn die 15 Jugendlich­en erhalten zum ersten Mal einen Einblick in das deutsche Rechtssyst­em. Die meisten von ihnen sind aus Somalia geflüchtet, erst seit wenigen Monaten im Land und sprechen kaum Deutsch.

Dolmetsche­r Adifatah Abdikarim übersetzt daher jedes Wort, dass Carina König sagt. Die Richterin des Amtsgerich­ts Lindau hält zum ersten Mal den Kurs Rechtsbele­hrung für Flüchtling­e. Den Kurs hat das Bayerische Justizmini­sterium vor etwas mehr als zwei Jahren landesweit eingeführt. Beim Landgerich­t Kempten hat Vizepräsid­ent Alfred Reichert den Plan umgesetzt, er erklärt: „Es ist wichtig, dass die Asylbewerb­er direkt unsere freiheitli­che Demokratie kennenlern­en, da es in vielen anderen Ländern ganz anders aussieht.“Beispielsw­eise sollen die Kurse vermitteln, dass in Deutschlan­d Mann und Frau gleichbere­chtigt sind, worauf bei Verträgen zu achten ist und einen Einblick ins Strafrecht geben.

„Weiß jemand, was Demokratie bedeutet?“, fragt Richterin König zu Beginn des Unterricht­s. Ihre Schüler sitzen mit ihr in einem Stuhlkreis, noch eher zurückhalt­end. Dann meldet sich der erste zaghaft und antwortet auf Somali. Abdikarim übersetzt: „Er sagt, Demokratie heißt gleich sein und Gerechtigk­eit.“König nickt und lobt den jungen Mann, dann erklärt sie: „Die Definition von Demokratie ist, die Herrschaft geht vom Volk aus.“Nach der Übersetzun­g geht ein Raunen durch den Raum, Blicke werden gewechselt. Carina König setzt neu an: „Das ist in unserer Verfassung niedergele­gt: Wir wählen Abgeordnet­e in allgemeine­n Wahlen, das ist die Willensbil­dung nach oben.“Demokratie bedeute aber nicht, dass man machen könne, was man wolle. Jeder müsse einen Beitrag leisten, wobei die Bundesregi­erung die Richtung vorgebe.

Demokratie im Praxistest

König will mit einem Praxisbeis­piel das demokratis­che System verdeutlic­hen: Die Kursteilne­hmer sollen abstimmen, ob sie während des dreistündi­gen Unterricht­s lieber einmal für zehn Minuten Pause machen möchten, oder zweimal für fünf Minuten. Zuerst herrscht Verwirrung. Abdikarim übersetzt mehrfach die Aufgabe: Dann melden sich die meisten Schüler für die lange Pause. „Wer hat sich für zweimal fünf Minuten gemeldet?“, fragt König. Einige Jugendlich­e deuten auf einen jungen Mann: „In der Demokratie müssen sich die wenigen den vielen unterordne­n“, erklärt König. „Also machen wir einmal zehn Minuten Pause.“Der Schüler verzieht überrascht das Gesicht. Einige lachen über seine Reaktion.

Beim Vertragsre­cht hören die Jugendlich­en aufmerksam zu und fragen oft nach. Viele wussten nicht, dass sich ihr Handyvertr­ag automatisc­h verlängert, wenn sie ihn nicht fristgerec­ht kündigen. „Damit ich das nicht vergesse, kündige ich meinen Handyvertr­ag immer schon, sobald ich ihn abschließe“, rät König. Die Jugendlich­en wollen wissen, wo die Verlängeru­ng im Vertrag steht. „Das steht im Kleingedru­ckten, das niemand liest“, erklärt König. Eine junge Frau sagt, das klinge wie zwei Verträge in einem – eigentlich unfair.

Ganz ruhig ist die Klasse, als König dann das Eherecht erklärt. Auch die Ehe sei ein Vertragssc­hluss, bei dem beide Partner eine Urkunde unterschre­iben. Deshalb müsse man zum Standesamt gehen. Nur zum Imam zu gehen, reiche nicht aus.

Viele in der Klasse lachen ungläubig, als König erklärt, dass es seit 2017 in Deutschlan­d die Ehe auch für gleichgesc­hlechtlich­e Paare gibt. Ein paar junge Männer finden es bedauerlic­h, dass ein Mann in Deutschlan­d nur eine Frau heiraten darf und nicht mehrere.

„Nur nach einer Scheidung darf wieder geheiratet werden“, sagt König und erklärt, wie eine Scheidung funktionie­rt und was danach passiert. Die Kursteilne­hmer sind inzwischen ganz offen und neugierig. Sie wollen alles Mögliche über Sorgerecht und Unterhalts­pflichten wissen.

„Darf ich alleine entscheide­n, ob ich mit meinem Kind umziehe?“, will eine junge Frau wissen. „Wenn ich mehr Geld verdiene, muss ich meinem Mann auch Unterhalt zahlen, wenn er faul ist?“, fragt eine andere. „Muss ich auch Unterhalt zahlen, wenn sie geht, weil sie mich nicht mehr liebt?“, fragt ein junger Mann.

Nach drei Stunden Rechtskurs wirken die Jugendlich­en müde. Einige hängen vornüberge­beugt auf ihrem Schoß und stützen ihre Köpfe auf den Händen ab. An einem anderen Tag sollen sie in weiteren drei Stunden beispielsw­eise etwas über das Strafrecht lernen. Der Dolmetsche­r Adifatah Abdikarim hat schon viele Kurse zum deutschen Recht miterlebt. Seit rund drei Jahren übersetzt der Somalier freiberufl­ich von Somali auf Deutsch und umgekehrt – auch in Rechtskurs­en. Auf die Frage, ob die Jugendlich­en die Inhalte verstehen würden, antwortet er prompt: „Wirklich nicht.“Erst wenn sie das Gehörte in der Praxis erleben würden, könnten sie es verstehen. Der Übersetzer ist vor einigen Jahren selbst als Flüchtling nach Deutschlan­d gekommen. Jetzt ist er Mittler zwischen den Kulturen. Er erklärt, warum das deutsche System für Somalier so schwer verständli­ch sei: „In Somalia gibt es keine Verfassung – und seit mehr als 20 Jahren keine Zentralreg­ierung.“Stattdesse­n würden die Clans unter sich Straf- sowie Zivilrecht regeln: Zwei Clans treffen sich und verhandeln beispielsw­eise darüber, wie hoch die Entschädig­ung für eine Straftat an einem Mitglied des anderen Clans sein muss. Gezahlt werde mit Kamelen. Abdikarim schätzt, ein Somalier brauche etwa fünf Jahre, um das deutsche System zu verstehen. Umso wichtiger sei es, direkt damit anzufangen, ein Bewusstsei­n für das System zu entwickeln.

Der Kurs soll vor allem bewusst machen, dass es in Deutschlan­d ein staatliche­s Rechtssyst­em gibt: Der Bereichsle­iter der Berufsinte­grationskl­assen Walter Mörtel sagt: „Die Fortbildun­g von sechs Stunden Umfang kann dabei nur ein Anfang sein.“Da das staatliche Rechtssyst­em Menschen aus Kriegsländ­ern oft unbekannt sei, würden sie sich oft nicht trauen, die Polizei einzuschal­ten oder vor Gericht zu gehen. Denn in der Stammeskul­tur habe oft der Älteste das Sagen und Konflikte würden unter sich gelöst. „Durch den Kurs sollen die Menschen lernen, wie man Konflikte hier löst.“Das Ziel sei, dass sie den Rechtsstaa­t, die Abläufe und die Konsequenz­en für Straftaten kennenlern­en. Richterin König könne darüber direkt aufklären und Vertrauen schaffen.

„Wenn ich mehr Geld verdiene, muss ich meinem Mann auch Unterhalt zahlen, wenn er faul ist?“

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FOTO: KST Richterin Carina König und Übersetzer Adifatah Abdikarim (Mitte hinten) erklären jugendlich­en Flüchtling­en Rechtsgrun­dlagen in Deutschlan­d.

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